Montag, 24. Juli 2017

:)Rezension:): Was fehlt, wenn ich verschwunden bin

Grundwissen:



Titel: Was fehlt, wenn ich verschwunden bin
Autor/-in: Lilly Lindner
Erschienen: 2014 im Fischer-Taschenbuch-Verlag (Klappbroschur); 2015 im Fischer-Taschenbuch-Verlag (Taschenbuch)
Seitenanzahl: 397 Seiten ohne Danksagung
Preis: 7, 99 € (Taschenbuch); 7, 99 € (Kindle Edition) [Quelle: amazon.de]
Genre: Contemporary; Drama; Briefroman




Inhalt:



Und Mama hat gesagt, dass es ein großes Geschenk ist, wenn ein Mensch dir so sehr vertraut, dass er dir seine geheimnisvollen Worte zu lesen gibt. Denn sagen kann man viel, wenn der Tag kurz oder lang ist. Aber wenn man etwas aufgeschrieben hat und jemand anders es liest, dann ist das wie ein Seelengeständnis. - Phoebe (S. 97)



Phoebe hat es gerade nicht einfach, denn ihre große Schwester April wurde von ihren Eltern in eine Klinik für Magersüchtige gebracht. So ist sie ganz allein mit ihren Eltern, die ihr nicht zuhören und sie nicht verstehen. Was Magersucht ist und warum ihr April weggenommen wurde, das versteht die Neunjährige nicht. Trotzdem will sie den Kontakt mit ihrer Schwester halten und erfahren, wie es ihr geht - und schreibt ihr Briefe. Und egal wie lange es dauert, bis ihre Schwester antwortet, Phoebe gibt sie, ihre Briefe und sich selbst nicht auf.





Meine Meinung ...




zum Cover:



Originalcover: ♥♥♥♥




Das Cover bringt die Atmosphäre dieses Buches wirklich wunderbar auf den Punkt: verträumt, sehr melancholisch, aber auch in gewisser Weise unschuldig. Das vereint sich wunderbar in den Farben und den umherfliegenden Schmetterlingen. Dazu noch ist der Titel nicht nur ein Zitat aus dem Buch, sondern beschäftigt sich natürlich auch mit dem Grundthema, allerdings aus Sicht beider Schwestern: was fehlt, wenn die große Schwester verschwindet, und was fehlt, wenn dadurch die kleine Schwester es ihr auf andere Weise gleichtut?
Daher ein recht hübsch anzusehendes Buch!




zum Buch:



Lilly Lindner stürmte mit ihrer Autobiografie Splitterfasernackt vor einigen Jahren Deutschlands Bestsellerlisten. Eine schreckliche Geschichte hatte sie zu erzählen - Kindesmissbrauch, Prostitution, Magersucht. Vor allem letzteres Thema beschäftigt sie noch heute mit ihren täglichen Ohnmachtsanfällen und 45 Kilogramm Körpergewicht. Somit kann man sich von einem Jugendroman, der genau dieses Thema beschreibt, doch eine sehr gute Beschreibung erwarten, vor allem wenn man bedenkt, dass hier ein Geschwisterpaar durch diese Krankheit auseinandergerissen wird.
Die Rechnung geht allerdings nicht ganz auf. Denn man spürt an allen Ecken und Enden, wie sehr die Autorin versucht, sich aus ihren Charakteren sprechen zu lassen und ihr ganzes Herzblut in deren Aussagen tut. Dass sie der Zielgruppe viel auf den Weg geben möchte. Und das an sich ist keinesfalls schlecht oder gar unethisch. Jedoch hätte Lilly Lindner diese Gedankengänge lieber in eine Ansammlung von Essays oder in einen weiteren Teil ihrer Biografie stecken sollen, als eine hauchdünne Geschichte darum zu spinnen. Denn Aussagen und Anleitungen können noch so schön sein - wenn man eine Geschichte versprochen bekommt, dann möchte man diese auch lesen, doch bei Was fehlt, wenn ich verschwunden bin kann man nur schwer einen roten Faden erkennen.
Generell verhält es sich bei Briefromanen sehr schwer, eine klare Handlung zu verfolgen. Denn meistens wird nur das berichtet, was bereits geschehen ist, weswegen der Leser eine sehr große Distanz zum Geschehen aufbaut. Selbiges Problem findet sich auch hier wieder. Auch wenn einige Dialoge mit wörtlicher Rede wiedergegeben werden, man hat doch Schwierigkeiten, vollkommen in den Alltag von Aprils kleiner Schwester einzutauchen und sich das Beschriebene wirklich zu Herzen zu nehmen. Denn das, was erzählt wird, ist recht unschön: die Geschichte einer zerbrochenen Familie, die sich auch so schon nie sonderlich nahe gestanden hat, und nun wegen der Weggabe der ältesten Tochter in eine Klinik komplett auseinanderbricht. Anfangs kann man noch gut mit Phoebe mitfühlen, da sie mit April ihre wichtigste Bezugsperson verliert und ihre Eltern ihr Unverständnis nun auf die Kleine projizieren. Sie beschreibt mit einer kindlichen Unschuld, wie sehr sie sich auf die Rückkehr ihrer Schwester freut, und dass sie nicht versteht, was Magersucht eigentlich ist und diese Krankheit erklärt haben möchte.
Nach einer Weile wird es aber sehr anstrengend, Phoebe und ihre Gefühlsergüsse zu verfolgen. Es gibt zwar viele schöne Lebensweisheiten und Anekdoten dieses kleinen Mädchens, die diverse Aussagen der Autorin sehr schön unterstreichen, und sind alle mit großer Einfühlsamkeit und Sanftmut erzählt. Der Schreibstil ist geprägt von Schwermut, großer Wortgewalt und auch sehr schönen Wortspielen. Was daran jedoch ist so anstrengend? Dass die Unglaubwürdigkeit mit jedem Satz, der einen von den Socken hat, vergrößert wird. Denn wie glaubhaft ist es, dass eine Neunjährige seitenlang förmlich über den Sinn des Lebens philosophiert, und das mit einer Sprache, die zu fortgeschritten für sie ist. Zumindest ist es reichlich unwahrscheinlich, dass eine Dritt- oder Viertklässlerin problemlos solche Worte wie ,,effizient'', ,,Seelengeständnis'' oder ,,Wortungetüm'' in ihre Briefe einbindet. Natürlich liegt es in der Natur von Kindern, dass sie Sätze oder Worte, die sie oft hören, nachplappern, aber meistens eben, ohne vollständig den Sinn dahinter zu erfassen. Und klar wird Phoebes ,,Anderssein'' immer wieder von ihren Eltern thematisiert und aufgegriffen, aber man kann eine gewisse Hochbegabung und Nachdenklichkeit auch realistischer rüberbringen. Das lässt sich auch nur schwer damit erklären, dass sie durch den Verlust ihrer Schwester schnell erwachsen werden muss, denn dazu ist sie wiederum zu reif und an vielen Stellen des Buches ziemlich dreist. 
So wird es mit zunehmender Seitenzahl auch schwer, aufrichtig mit ihr mitzufühlen. Denn natürlich hat sie schreckliche Eltern, die vollkommen überfordert damit sind solche sein zu müssen, allerdings macht Phoebe ihnen auch nicht unbedingt wenige Probleme. Im Gegenteil, sie scheint sich sogar unverstanden fühlen zu wollen, so wie sie sie provoziert. Teilweise hält sie ihre Eltern sogar für ziemlich dämlich, weil sie ihre ganzen Fragen nicht begreifen und sich über diese aufregen - obwohl viele von ihnen vor allem mit ihrer hochnäsigen Einstellung wohl nicht nur diesen beiden den letzten Nerv rauben würden. Daher ist sie eine recht schwierige Protagonistin, die durch ihre schlicht übers Ziel hinausgeschossene Reife und ihre Gedankengänge kaum greifbar für den Leser ist.
Doch nicht nur Phoebe bleibt man distanziert gegenüber, auch ihre Schwester April bleibt dem Leser etwas suspekt. Man kann nicht mit der Erwartung rangehen, dass man stückweise mitbekommt, wie Phoebe etwas über ihre seelische Krankheit lernt oder eben daran scheitert, sie wahrhaft zu verstehen. Denn die Magersucht an sich rückt nur am Ende des Buches stark in den Fokus. Ansonsten geht es eher um Phoebes Alltag, und noch mehr um ein Schwelgen in der Vergangenheit der beiden Schwestern. Doch egal wie viele Dialoge Lilly Lindner einstreut und wie viele ,,Ich liebe dich''s sie ans Ende eines jeden Briefs verhängt - die Geschwisterbeziehung per se wirkt recht idealisiert und zu harmonisch. Das Bild ist klar: zwei Schwestern gegen den Rest der Welt, in der sie Außenseiter sind. Aber dass das immerzu funktioniert und es nie Momente gibt, in denen sich die beiden streiten oder mal nicht füreinander einstehen, ist dann doch sehr statisch. Das macht es leider auch uninteressant, die Geschichte der beiden zu verfolgen, weil sich sowieso nichts entwickelt. Die beiden müssen sich nur gegenseitig beteuern, ständig weiterzukämpfen und nie zu schweigen, und gefühlt alles ist in Butter. Dabei wäre es doch viel interessanter, wenn Phoebe ab irgendeinem Zeitpunkt auch wütend auf April dafür gewesen wäre, sie verlassen zu haben oder ihr nicht sofort zurückzuschreiben. Daher bleiben beide Schwestern Ideale füreinander, die aber eben durch ihre wenigen Kanten umso unerreichbarer für den Leser werden.
Für all diejenigen, die sich also Informationen dazu erwarten, wie es im Kopf einer Magersüchtigen aussieht oder was konkret es mit einer Familie anstellt, der wird sich mit halben Sachen zufriedengeben müssen. Es werden viele Themen angerissen, aber vollständig ausgearbeitet wird außer der Aussage der Autorin, man dürfe nicht aufgeben, nichts. Und dies wiederholt sich in den knapp 400 Seiten des Buches in Dauerschleife. Nur wenige Wendungen gibt es, die den Leser daran erinnern, dass er doch eine Geschichte vor sich hat, und die treffen einen in der Tat auch ein wenig. Wenn man allerdings ständig einen Schreibstil vor Augen hat, der vor Melancholie und Traurigkeit trieft und gefühlt ständig von Hoffnung spricht - dann stumpft man leider irgendwann ab, so schön die Worte auch sein mögen. Taktvoller wäre es gewesen, wenn Lilly Lindner nicht auf jeder Seite dasselbe erzählt, sondern ihre Aussagen pointierter und weniger forciert getroffen hätte. 
Bis man zu diesem Punkt kommt, bietet einem die Autorin allerdings viel an Weisheiten und Tipps. Nicht konkret für Leute, die Essstörungen haben, sondern für die Außenseiter der Gesellschaft, die sich so unverstanden und ungehört fühlen wie ihre Protagonistinnen. Diesen möchte sie hiermit eine Stimme verleihen und ihnen den Mut dazu geben, sich eben nicht in etwas zu flüchten, wie April und auch Phoebe es tun. Durch ihre Betonung, wie wichtig Worte sind, ist das Buch auch sehr literarisch und voller Poesie darüber, was Worte ausmachen können. Dazu hat sich die Autorin sogar ein paar schöne Parabeln oder Metaphern einfallen lassen, was natürlich Kreativitätspunkte einbringt.



Insgesamt ein Buch, das sehr schwer zu bewerten ist. Für die Gedanken, die Message und die Weisheit, die in diesen gewaltigen und zugleich sanften Worten stecken, könnte man problemlos eine tolle Bewertung abgeben. Doch man merkt, dass die Autorin zwar im Kopf hatte, was sie erzählen möchte, allerdings nicht, wie sie dies tun soll. Ihre Charaktere sind sehr grob gezeichnet und verlieren nach und nach an Glaubwürdigkeit - und an Sympathie in Phoebes Fall -, genauso wie die Handlung durch die Briefform lange Zeit stillzustehen scheint. Es wird sich hauptsächlich auf die Vergangenheit konzentriert statt etwas darüber zu erfahren, was konkret Aprils Krankheit ausmacht und wie es die Situation in der Familie verschlimmert, denn schlimm ist es schon zuvor gewesen. Ein Buch, das einem seitenweise schöne, herzerwärmende Zitate bieten kann - allerdings eine bestenfalls dürftige Geschichte drumherum.



Ich gebe dem Buch:



♥♥♥ Herzchen




Extra:



Wer an der Person der Lilly Lindner interessiert ist, der kann sich hier gerne ihr Interview im SWR1 ansehen. Sie ist definitiv ein außergewöhnlicher Mensch :)

CU
Sana

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