Mittwoch, 12. Juli 2017

:)Rezension:): Fratze

Grundwissen:



Titel♥: Fratze (original: Invisible Monsters)
Autor/-in♥: Chuck Palahniuk
Erschienen♥: 2010 im Goldmann-Manhattan-Verlag (Taschenbuch), original 1999
Seitenanzahl♥: 287 Seiten
Preis♥: 9, 95 € (Taschenbuch) [Quelle: amazon.de]
Genre♥: Mindfuck; Post-Moderne; (schwarze) Tragikomödie; Satire




Inhalt:



,,Und ich habe dieses fiese Gefühl, irgendwie nicht real zu sein, wenn ich nicht von Leuten gesehen werde.'' - Evie (S. 65/66)



Sie ist wunderschön, ein weltbekanntes Model, hat einen wundervollen Verlobten und eine beste Freundin. Ihr Leben könnte also märchenhafter kaum sein. Doch dann wird sie bei einem Unfall entstellt; durch eine Fensterscheibe wurde ihr Gesicht zerschossen, sodass nur noch eine Fratze übrig ist. Das verändert alles: ihr Umfeld wendet sich von ihr ab, keine Modelagentur möchte sie mehr annehmen. Schlagartig scheint sie alles verloren zu haben, was sie sich je aufgebaut hatte, die Zukunft, die Karriere, die Aufmerksamkeit. Auf dem Weg zu ihrer Sprachtherapeutin trifft sie jedoch Brandy Alexander, die wohl das nächste an der Perfektion ist, was sie je gesehen hat. Und ausgerechnet Brandy ist es, die ihr zeigt, dass in ihrer Entstellung und Hässlichkeit genau die Freiheit liegt, die sie sich alle wünschen ...





Meine Meinung ...




zum Cover:




Deutsches Cover: ♥♥♥♥♥
Originalcover Nr. 1: ♥♥♥♥
Originalcover Nr. 2: ♥♥♥♥
Cover unzensierter Ausgabe: ♥♥♥♥♥






























Die Ausgaben dieses Buches gehören mit zu den genialsten, die ich in den letzten Monaten gesehen habe. Vor allem das deutsche ist trotz seines simplen Aussehens verdammt gut gemacht; denn während man zuerst nur ein Mädchen mit Blutspritzer sieht, entdeckt man, wenn man das Buch umdreht, eine alte Frau. Das passt nicht nur zum Titel des Buches, das natürlich eine Fratze andeutet, aber auch zu dem Leitfaden des Buches schlechthin - nämlich, dass nichts ist, was es auf den ersten Blick scheint.
Auch die Ausgaben im Amerikanischen sind sehr ansehnlich. Nummer 1 ist zwar noch schlichter als das deutsche Cover, allerdings fokussiert es sich auf den einzigen Faktor des Gesichts der Protagonistin, der nicht zerstört wurde: ihre Augen. Genauso interessant ist das Cover mit all den Farben, die natürlich je nach Einstrahlung die schwarze Person immer anders beleuchten. Sieht man darin die mysteriöse Brandy Alexander, passt das natürlich umso mehr.
Und dann ist da noch das Cover der unzensierten Ausgabe, die Chuck Palahnuik vor dem Jahre 2000 veröffentlichen wollte, die aber wegen zu hoher Brutalität abgelehnt wurde. Ja ... was soll man sagen? Das Cover zeigt eine massakrierte Barbie, und genau das spiegelt das Buch perfekt wieder.
Man könnte glatt zum Sammler verschiedener Ausgaben dieses Buches mutieren, so genial sieht es in vielen verschiedenen Formen aus.




zum Buch:




Gib mir einen Film von vor 2000, der noch heute Kult ist und sofort mit dem Namen Chuck Palahniuk verbunden wird. Blitz! Gib mir den Bekanntheitsgrad durch unerwartete Twists und ein destruktives Weltbild. Blitz! Gib mir etwas ganz, ganz Spezielles, Intelligentes und zugleich Krankes. Blitz!
Fratze ist ein Buch, das einem selbst tagelang nachdem man es gelesen hat, mit gemischten Gefühlen zurücklässt. Genauso fühlt man sich auch während des Lesens, und genau deswegen ist dieses Werk - oder scheinbar generell die Werke dieses Autors mit unaussprechlichem Namen - nicht etwas für jeden. Es ist äußerst fragmentarisch und bis auf wenige Stellen ohne Chronologie erzählt, sodass man sehr leicht den Faden verlieren kann und sich ziemlich stark konzentrieren muss. Es ist sehr verstrickt und mehrmals um zwei Ecken gedacht, und so speziell, dass man auch beim Verschlingen dieses schmalen Büchleins nicht entscheiden kann, ob man das alles jetzt positiv oder negativ krank findet. Auch der vulgäre Schreibstil mit seinem pechschwarzen Humor und zynischem Weltbild dürfte einige dazu bringen, diesen Roman abzubrechen. Doch einige Andere dürfte eben dieses Besondere und Zerstörerische, Kranke und zugleich Philosophische hellauf begeistern - und vielleicht ein neues Lieblingsbuch finden.
Gekonnt verstrickt Palahnuik Provokation mit Perversion und Kritik an unserer damaligen wie auch heutigen Gesellschaft. Das Faszinierende nämlich ist die Zeitlosigkeit dieses Romans. Obwohl das Buch zensiert erst 1999 erschienen und es schon Jahre davor fertig gewesen ist, kann sich das, was der Autor anprangert, umso mehr auf die heutige Zeit übertragen lassen. Durch die Protagonistin, deren Namen man nur zum Schluss erfährt, aber auch durch die anderen Figuren will er einem die rosarote Brille vom Gesicht reißen und einem zeigen, was aus uns geworden ist. Er kritisiert die Aufmerksamkeitsgeilheit der Masse wie auch des Einzelnen, wie sehr wir nach Perfektion streben, nur um aus ebendieser Masse herauszustechen, und genau dabei zu scheitern - denn schließlich ist das kein individueller, sondern massentauglicher Wunsch. Man sieht sich selbst als die Hauptrolle in seinem Leben und will genau deswegen auffallen, bewundert werden, außergewöhnlich sein - und wird genau deswegen gewöhnlich. Diesen inneren Widerspruch innerhalb der Gesellschaft zeigt er in vielen Nuancen hervorragend auf, zeitgleich mit der Erkenntnis seiner Figuren darüber. Durch Rückblicke in die Zeit der Protagonistin als Model bringt man in Erfahrung, wie sehr man sich für andere verbiegt, um schön auszusehen und Aufmerksamkeit zu ergattern, und reflektiert dieses Verhalten letztlich auch in sich selbst. Findet man etwas schön, weil die Masse es sagt? Weil man es beigebracht bekommen hat? Oder findet man es wirklich von sich aus schön? Kann man sich überhaupt dem, was die Gesellschaft als schön empfindet, entziehen? Schlimmer noch: Kann man sich selbst schön finden, wenn andere das nicht tun?
Vor allem wegen der Perspektive einer ehemals Schönen und nun Verstümmelten ist diese Abhandlung der Fragen sehr dynamisch, aber auch sehr unterhaltsam und amüsant. Es ist nicht jedermanns Humor, wenn zum Beispiel Models in Spitzenhöschen vor aufgehängten Schweinen in einem Schlachthaus posieren und der Fotograf eine von ihnen anweist, sich eine Kettensäge näher an die Zunge zu halten, aber es treibt dieses Business wunderbar auf die Spitze. Zwar ist nicht ganz so viel Kritik an der Industrie hinter der Schönheitsbranche vorhanden, wie man anfangs vielleicht denken mag, dafür überrascht Palahnuik einen aber mit all den Gedankengängen zum Thema Identität und Individualität. Das tut er nie mit einem moralischen Zeigefinger, sondern immerzu mit Aussagen, die einem das Lachen im Halse stecken bleiben lassen. Denn diese sind unglaublich dunkel und können einen verdammt runterziehen - trotzdem kann man nicht dagegen argumentieren. Obwohl diese Philosophie, die vor allem von Schönheits-OP-Flickenteppich Brandy Alexander verkörpert wird, so negativ und radikal ist, kann sie einen trotzdem in den Bann ziehen und faszinieren.
Deswegen folgt man Brandy Alexander auch gemeinsam mit der Protagonistin sehr gerne. Es passiert nicht allzu viel - zumindest nichts, was man in irgendeine Reihenfolge bringen könnte -, aber was geschieht, hat viel Symbolkraft und ist immer ein Mittelfinger gegen das System. Sicherlich können sich so nicht nur einige Zitate, sondern auch Szenen im Gedächtnis des Lesers einbrennen.
Vor allem wenn es um die Twists geht. Das Buch gehört dem Genre ,,Mindfuck'' an, daher folgt es seiner ganz eigenen, verqueren Logik. Daher gelingt es auch dem Autor, einem den Boden unter den Füßen zu entreißen, wenn einer dieser Twists kommt, der einen all das zuvor Gelesene in einem anderen Licht erscheinen lässt. Natürlich kann das bei einem Buch, das anprangert, dass keine Person der Welt das ist, was man auf den ersten Blick oder über ihr Erscheinungsbild denkt, der Wahrheit entspricht, nicht passender sein. Es lässt einem zwar das Hirn pochen vor Wahnsinn, ist aber trotzdem in dieser überzogenen Satire unserer Welt aus Geltungsdrang nachvollziehbar.
Daher kann man auch mit den Figuren, so ungewöhnlich und krank sie auch sind, eine recht gute Beziehung aufbauen. Man sieht zwar nur Bruchstücke und wird nur gegen Ende ein halbwegs vollständiges Gesamtbild von ihnen haben, aber genau diese Brüche sind es, die sie so interessant machen. Im Normalfall hat der Leser kein halb weggeschossenes Gesicht oder nimmt Schönheitsoperationen und Pillen zu sich wie ein tägliches Medikament, um sich attraktiver zu fühlen, doch trotzdem kann man sich mit ihnen identifizieren. Denn genauso wie man selbst sind sie gefangen in dieser Welt, in der sie etwas Besonderes sein wollen, es aber allein durch diesen Wunsch nicht sein können. Sie alle suchen nach einer Möglichkeit danach, und sie alle zerbrechen dabei, genauso wie man selbst in irgendeinem Zeitpunkt seines Lebens diesen Druck nicht mehr aushält. Daher kann man die Gefühlswelt der Protagonistin, ihre Sehnsucht nach ihrem alten Leben, ihre Faszination von Brandys Philosophie, und ihre Entwicklung recht gut verstehen. Generell vermögen einen die Hintergrundgeschichten einen vom Hocker zu hauen, nicht nur wegen ihrer Abgedrehtheit, sondern auch wegen des nicht zu leugnenden Realismus darin. Wie man Charaktere in einem solchen Buch trotzdem mit realistischen Bruchstücken versehen kann, ist einfach nur ein Kunststück!
Ebenso verhält es sich mit dem Finale des Buches, das schon im ersten Kapitel angeteasert wird. Wie kann es dazu kommen? Wer steht wie zu wem? Wer hat die Schuld an der Situation, wer ist der Böse, wer ist der Gute? All diese Fragen werden recht gekonnt und doch verstrickt beantwortet, denn wie die Protagonistin selbst ausdrückt: 

,,Die Mörderin, das Opfer, die Zeugin, jede glaubt, ihre Rolle ist die Hauptrolle. Wahrscheinlich gilt das für alle Leute auf der Welt.'' - S. 12

Es ist gleichzeitig ein tragisches und doch triumphales Ende, was einen gleichzeitig mit Hoffnung aber auch mit Hoffnungslosigkeit erfüllt. Trotzdem ist es sehr spannend gestaltet und gibt auf alle nötigen Fragen Antworten. Doch trotz der Ernsthaftigkeit dieser Thematik und der Situation vergisst der Autor selbst in den letzten Seiten nicht, seinen abstrusen Humor einzustreuen. Auch wenn die Auflösung der Geschichte etwas schnell vonstatten ging und man die nötige Veränderung, um zu einer Wendung zu führen, schleichend statt schlagartig bemerkt, passt es trotzdem perfekt und rundet das Buch zu einem Meisterwerk ab.




Ein unglaublich krankes, dunkles und zynisches Buch, das nichtsdestotrotz intelligent ist und in sich geschlossen Sinn ergibt. Auf unzähligen Seiten zeigt der Autor Missstände an der Schönheitskultur, Gesellschaft und dem Menschen im Allgemeinen auf, und zwar derart überzeugend, dass man auch als optimistischer Mensch nicht dagegen angehen kann. Genauso wie diese Aussagen sowohl im Jahre 1999 als auch im heutigen 2017 wie die Faust aufs Auge passen, haben auch die Figuren trotz ihrer verdrehten Gedanken realistische Ansätze und Probleme, die dem Leser eine Möglichkeit zur Identifikation geben. Es ist die Geschichte von Individuen, insbesondere unserer Protagonistin, die sich ihr eigenes Bild von Schönheit erschaffen will und sich von den Fesseln der Welt lösen will, und es macht großen Spaß, sie dabei zu beobachten und - erschreckenderweise - selbst das ein oder andere zu lernen. Der Schreibstil ist anfangs wegen seiner Vulgarität und der endlosen Beschreibung von Marken und Labels gewöhnungsbedürftig, doch sobald man realisiert, dass das Absicht ist, kann man das nicht mehr negativ sehen. Einzig im Mittelteil hätte man etwas mehr Action einfügen können, genauso wie das Ende etwas langsamer hätte vonstatten gehen können. Ein Puzzle an fragmentarischen Gedankensätzen mit einer symbolischen Story, die im Gesamtbild sicher nicht nur ein Augenöffner für diejenigen sein könnte, die sich die ganze Zeit fragen, was sie da eigentlich lesen, sondern auch im Bezug auf das eigene Leben und Verhältnis zu den angesprochenen Themen. Gib mir Manie! Gib mir Individualität! Gib mir ein verdammt gutes Stück Literatur!




Ich gebe dem Buch:


♥♥♥♥ Herzchen


Extra:


Wer einen Einblick in die verqueren Geschichten von Palahnuik werfen will: Fight Club wurde mit Edward Northon und Brad Pitt in den Hauptrollen verfilmt, ebenso wie sein Buch Der Simulant (im Original Choke) im Jahre 2008 erschienen ist.
Fight Club beschreibt hierbei das Leben eines namenlosen Erzählers, der in seinem Leben alles erreicht hat, was er will, doch seine Monotonie satt hat. Als er auf einem Flug Tyler Durden trifft und mit ihm einen trinken geht, findet er schließlich Befreiung in der Gewalt des Fight Clubs - der sich jedoch schnell zu einem mehr als stadtweiten Problem entwickelt.
In Choke geht es um einen Sexsüchtigen, der seine pflegebedürftige Mutter irgendwie versorgen muss, sich deswegen in Restaurants setzt und so tut, als würde er an Essen ersticken, damit man ihm Schmerzensgeld schickt. Ja ... so abgefuckt hören sich die meisten seiner Bücher an und den Film selbst habe ich noch nicht gesehen XD

CU
Sana

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