Mittwoch, 19. Juli 2017

►Film-Review◄: In meinem Kopf ein Universum

Grundwissen:



Titel: In meinem Kopf ein Universum (original: Chce sie zyc)
Idee: Maciej Pieprzyca
Regisseur/-e: Maciej Pieprzyca
Produzent/-en: Wieslaw Lisakowski
Produktionsfirma: Tramway Film Studio; Silesia Film; Telewizja Polska - Agencja Filmowa
Erschienen: 2013; 2015 auf DVD
Dauer: 107 Minuten (1 Stunde 47 Minuten)
Altersfreigabe: FSK 6
Preis: 12, 99 € (DVD); 14, 99 € (Blue-Ray); 2, 99 - 9, 99 € (Amazon Video) [Quelle: amazon.de]
Genre: (Familien)Drama; Tragikomödie; Biografie








Inhalt:



,,Ich bin kein Gemüse.'' - Mateus



Für die meisten Menschen ist es kaum vorstellbar, sich nicht bewegen zu können, nichts sagen zu können, ständig auf andere angewiesen zu sein. Für Mateus ist das Alltag, denn mit der zerebralen Bewegungsstörung kann er seinen Körper nicht kontrollieren. Am Anfang versucht seine Mutter ihm zwar noch, Laufen und Sprechen beizubringen, doch als alle Ärzte ihr bestätigen, dass er geistig behindert und völlig unerreichbar für sie ist, schwindet die Hoffnung. Doch nicht für Mateus. Der versteht nämlich alles - nur weiß das keiner. Er passt seinen großen Moment ab - den Moment, in dem er allen zeigen kann, dass er kein Gemüse ist ...





Meine Meinung ...




zum Film:




Kennt irgendjemand einen polnischen Film, der es über die nationalen Grenzen hinaus geschafft hat? Wohl kaum, denn generell kriegt man von dem Nachbarland relativ wenig mit, wenn es um Kunst geht, sowohl im Bereich Buch als auch Film. Denn Vieles davon ist eher unterwältigend - zum Glück zählt In meinem Kopf ein Universum nicht dazu, sondern ist fast durchgängig das genaue Gegenteil.
Das, was dieses Drama so wunderbar macht, ist, dass es so realistisch ist. Denn man hätte aus einem Behinderten, der so viele Jahre seines Lebens erfolglos versucht, mit der Außenwelt zu kommunizieren, eine tragische, auf die Tränendrüse drückende Kitschorgie machen können. Doch genau solche Dramen sind die schlechtesten, denn wenn man es nicht durch das Szenario, die Situation und die Figuren schon transportieren kann, dass es sich um etwas Ernstes handelt, dann sind überdramatisierte Musik, himmelhochjauchzende Liebesbekundungen und plötzliche Regenfälle eher etwas, dass die Geschichte verzerrt statt sie greifbarer zu machen. Maciej Pieprzyca hingegen schafft es, die Problematik schonungslos, aber zugleich sanftmütig rüberzubringen. Es gibt keine Szenen, in denen jemand sich auf den Boden fallen lässt und unter dem Ballast zusammenbricht, es gibt keine Close-ups von verheulten Gesichtern - und trotzdem spürt man die Tiefpunkte und traurigen Wendungen mit voller Wucht. Vielleicht genau dadurch, dass Vieles eher nüchtern dargestellt wird, treffen einen die essentiellen Szenen umso mehr ins Herz und bringen einen dazu, aufrichtiges Mitgefühl zu empfinden für jeden, der mit dieser Bürde zu kämpfen hat. Passend dazu ist die Hintergrundmusik meistens recht sanft, ohne an Eindringlichkeit zu verlieren, weswegen man sich trotz der Thematik sehr wohl in diesem Film fühlt.
Außerdem ist die schauspielerische Leistung einfach nur bewundernswert. Sowohl der Kinder- als auch der erwachsene Darsteller von Mateus bringen diese Behinderung so glaubwürdig rüber, dass man kaum glauben kann, dass die beiden außerhalb des Films keinerlei Beeinträchtigungen haben. Vor allem die Mimik und die Gestik des Protagonisten ist trotz all der Verkrampfungen und der immerzu gekrümmten Körperhaltung sind so fein und doch so ausdrucksstark, dass man ihn als die mit plastischste Figur wahrnimmt. Das hinzukriegen, obwohl man höchstens die Geschehnisse aus dem Off kommentiert, da Mateus bis auf einige Laute nichts von sich geben kann, ist schon ein Kunststück und definitiv nichts, was jeder Schauspieler hinbekommen würde. Daher fühlt man sich auch in der Perspektive von Mateus sehr wohl; seine Gedankengänge sind recht kurz angebunden, besitzen aber immer einen unterschwelligen sarkastischen Unterton, der jeder noch so ernsten Situation etwas die Schärfte nimmt. Es ist keinesfalls so, dass dieser Film wahnsinnig lustig wäre, aber ein Schmunzeln kann man sich doch nicht verkneifen, vor allem bei den Stellen, in denen Mateus wahrnimmt, wie schön die Geschlechtsmerkmale der Frau doch sind. Doch auch von diesen Kommentaren mal abgesehen, ist es faszinierend, wie sehr man ihn als Person kennenlernt, obwohl er doch derjenige ist, der am wenigsten von seiner Persönlichkeit nach außen tragen kann.
Das ist vor allem für die Message des Films wirklich wichtig, da dieser einen sehr guten Umgang mit dem Thema Behinderung hat. Insbesondere da die Geschichte in den 1980er Jahren in Polen ansetzt, sind die Verhältnisse damals - das Konservative, die Angst vor dem Unnormalen, die Armut - recht gut gezeigt worden und dadurch auch Mateus' Kindheit sehr verständlich. Selbst heutzutage sieht man selten eine Mutter mit einem behinderten Kind in der Öffentlichkeit, und damals ist dies sogar noch verpönter gewesen. Es erblickt kaum je den Spielplatz vor seiner eigenen Haustür, es gibt keine Möglichkeiten der Unterstützung dafür oder für Entlastung der Familie, und genau deswegen ist diese auch nicht sonderlich stabil. Man erkennt sowohl die Seite, die behinderte Menschen trotz ihrer Beeinträchtigung auf herzerwärmende Weise in den Alltag integrieren, aber auch diejenigen, die gar nicht weiter genau hinsehen und Mateus direkt als Gemüse oder ,,Trottel'' - wie seine eigene Schwester sagt - abstempeln. Glücklicherweise schafft es der Film aber, aus Behinderten nie Witzfiguren zu machen, auch wenn sich ab und an Slapstick-Situationen anbieten sollten. Stattdessen werden sie als Menschen gezeigt, nicht nur anhand von Mateus' Geschichte, sondern auch Nebenfiguren, auf die er trifft. Menschen, die Freundschaften schließen, die gerne musizieren, die sich verlieben und Spaß haben. Sicherlich hätte es nicht schaden können, einigen von ihnen Namen zu geben und einige von ihnen mit Mateus Freundschaft schließen zu lassen, doch auch so ist das schon mehr, als so manch anderes Medium bereit ist zu zeigen. Indirekt werden auch auf Missstände in Einrichtungen für solche Menschen gezeigt, weitreichend über Geldmangel bis hin zu fehlendem Einfühlungsvermögen. Jedoch zeigt sich in In meinem Kopf ein Universum, dass das kein Problem des Pflegepersonals, sondern der Menschen generell ist: jemand ist anders, tut sich schwerer damit, sich auszudrücken, und genau deswegen neigt man dazu, diesen Jemand zu unterschätzen. Denn dies ist für die meisten einfacher, als sich anzustrengen, bis man gemeinsam wenigstens ein klein wenig an Selbstständigkeit erarbeitet, sowohl für einen selbst als auch - wie man sich einredet - für den Behinderten selbst. Daher ist die Grundmessage des Films, nämlich dass es sich immer lohnt, weiterzukämpfen, egal wie aussichtslos die Lage ist, einfach nur wundervoll und auch sehr schön rübergebracht.
Denn der Film strotzt förmlich nur so vor Leben. Es gibt eine herrliche Abwechslung von schönen Erlebnissen und Tiefschlägen, von großen Momenten und kleinen Hoffnungen, Freundschaften, die geschlossen werden, und auch Abschiede, die gemacht werden müssen. Dabei kommen auch die Nebenfiguren recht glaubwürdig und real rüber, obwohl man nicht so viel über sie erfährt und auch einige ziemlich schnell von der Bildfläche verschwinden. Trotzdem macht es Spaß, Mateus' Werdegang zu beobachten, vor allem die Szenen mit seiner Familie lassen einen einfach nur dahinschmelzen. Die Beziehungen untereinander werden, auch wenn zum Beispiel gemeinsame Szenen von Mateus und seinem Bruder Tomek rar gestreut sind, sehr glaubwürdig und voller Herz dargestellt, und saugen einen so umso mehr in die Geschichte hinein. Vor allem die Momente zwischen Mateus und seiner Mutter, die sich immer schwerer alleine mit ihm herumschlagen kann, sind sehr berührend und sorgen für das ein oder andere Tränchen im Augenwinkel.
Vielleicht hätte es dem Drama aber nicht geschadet, ein wenig ausführlicher in diesen Momenten zu sein. Denn größtenteils schaut sich der Film sehr episodenhaft, es werden meistens nur essentielle Szenen mit schönen Details gezeigt, die aber den Verlauf der Geschichte ab und an etwas sprunghaft erscheinen lassen. Vor allem bei Mateus' erster Kontaktperson außerhalb des eigenen Haushalts hätte man sehr viel machen können, statt ihr nur so kurz Screentime zu geben. So fällt es manchmal auch schwer - von der eingeblendeten Jahreszahl abgesehen - die verstrichene Zeit einzuschätzen, sodass die Story noch ruhiger wirkt als sowieso schon. So plätschert das Geschehen lange Zeit vor sich hin, sodass man lange nicht weiß, wohin Mateus' Biografie führen soll. Natürlich wartet er auf seinen großen Moment, in dem er allen zeigen kann, was in ihm steckt, doch der Film lässt sich sehr viel Zeit damit, diesen einzuführen. Und sobald er eingeführt ist, wird alles gefühlt dreimal schneller abgehandelt als zuvor. Das hätte man mit mehr Feingefühl und weniger umstürzlerisch erzählen können, damit man als Zuschauer auch die Chance hat, etwas über all die Folgen und Veränderungen lernen zu können. Deswegen ist das Ende zwar sehr schön und unterstreicht die Aussage des Films wunderbar mit dieser an wahre Begebenheiten angelehnte Geschichte, doch etwas mehr von der sonstigen Geduld hätte definitiv nicht geschadet.




Doch das ist natürlich Gejammer auf hohem Niveau. Auch wenn Einiges zu langsam oder zu schnell erzählt ist, der Film ist trotzdem sehr wertvoll sowohl in seiner Darstellung von Behinderung als auch in seiner Message. Nicht nur macht er sicherlich Mut für all diejenigen, die selbst eine Beeinträchtigung haben, sondern auch jenen, die in sonst einer Art das Gefühl haben, nicht gehört oder verstanden zu werden. Mit einer sehr dichten und doch ruhigen Atmosphäre verfolgt man Mateus' Leben, das farbenfroher nicht sein könnte: man fühlt mit ihm mit, freut sich mit ihm, leidet mit ihm, erlebt eine große Palette an Emotionen, und das hauptsächlich durch die fabelhafte Leistung des Hauptdarstellers. Ein mehr als nur empfehlenswerter Geheimtipp für all jene, die ein Drama wollen, dass kein Drama daraus macht, dass es eines ist.




Ich gebe dem Buch:


♥♥♥ Herzchen


Extra:



Wen andere Filme zu so einer Thematik interessieren, der kann einen Blick auf den Trailer von Me, Too werfen. Darin geht es um einen Franzosen mit Down-Syndrom, der Schwierigkeiten hat, seiner Umwelt zu beweisen, dass er trotz seiner Beeinträchtigung ein Erwachsener mit all den Rechten und Bedürfnissen eines solchen ist. Ich fand ihn ganz in Ordnung :)



In diesem Beitrag verwendete Bilder sind folgenden Quellen entnommen:


http://www.berliner-zeitung.de/image/987762/2x1/940/470/fab073ce5185d98fd8d5b7a55e702257/xm/71-82736377--der-mann-im-ro--08-04-2015-14-53-17-393-.jpg
http://kultur-online.net/files/filmriss/Kopf_Universum1.jpg
http://www.kinofenster.de/img/db/kf1504-in-meinem-kopf-ein-universum-filmbesprechung-familie.jpg_680_480_80.jpg


CU
Sana

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