Sonntag, 10. September 2017

:)Rezension:): Und plötzlich waren wir Verbrecher

Grundwissen:



Titel♥: Und plötzlich waren wir Verbrecher - Geschichte einer Republikflucht
Autor/-en♥: Michael Proksch, Dorothea Ebert; Gertrud Proksch; Ina-Maria Martens
Erschienen♥: 2010 im dtv-Verlag (Taschenbuch)
Seitenanzahl♥: 300 Seiten ohne Danksagungen
Preis♥: 10, 90 € (Taschenbuch); 8, 99 (Kindle Edition) [Quelle: amazon.de]
Genre♥: Non-Fiction; Erfahrungsbericht




Quelle: amazon.de





Inhalt:


Meine Angst saß tief. Merkte ich doch, wie schnell vieles wieder hochgespült wurde. All die Verletzungen, all die von Furcht durchgedrungene Augenblicke von Ohnmacht. Sich nicht wehren zu können, so wie Kafka dass beschreibt. [...] Wehrlos gegen Ungerechtigkeit zu sein, das ist wie eine innere Vergewaltigung. - Michael Proksch (S. 152)


Das Geschwisterpaar Dorothea und Michael wächst zusammen in der DDR in Dresden auf. Mit Eltern, die als Lehrer tätig sind, führen sie auch kein schlechtes Leben. Doch nach einer gewissen Zeit merken sie, wie der Staat ihnen täglich seine Ideologie aufhalst und alles missbilligt, was davon abweicht. In ihrer Studienzeit wagen sie 1983 gemeinsam mit zwei Freunden den Fluchtversuch in den Westen - und müssen sich damit konfrontiert sehen, wie sie als versuchte Republikflüchtige ihre Würde verlieren.




Meine Meinung ...




zum Buch:




Beinahe dreißig Jahre ist es her, seit die Mauern gefallen sind und Deutschland wieder zu einem Ganzen werden konnte. Dabei spürt man heute im Osten noch immer die Auswirkungen der wirtschaftlich maroden DDR - nicht nur angesichts des Lebensstandards, sondern auch all den Narben, die ihre Bürger davongetragen haben. Doch selten erfährt man in Geschichtsbüchern oder in der Schule tatsächlich von Einzelschicksalen, betrachtet die Problematik eher auf politischer und ideologischer Ebene. Was jedoch hat es mit all den Leuten gemacht, denen die Freiheit verwehrt wurde? Wie eingeschränkt war man durch den Sozialismus wirklich? Wie hat man einander gegenübergestanden, wenn jeder ein Spitzel der Staatssicherheit hätte sein können?
Die beiden Geschwister nehmen sich mit ihrem Erfahrungsbericht Stellung zu diesen Fragen und erinnern sich lebhaft an diese Zeit, in der die Aussicht auf einen Mauerfall noch in weiter Ferne war. Dabei erzählen sie jeweils getrennt von ihrer Perspektive auf die Flucht und den Gefängnisaufenthalt, um in den letzten Seiten von den Erinnerungen ihrer Mutter ergänzt zu werden.
Dieser Aufbau ist auch das, was dem Buch ein wenig den Kick nimmt. Denn während man in Michaels Geschichte komplett aufgeht und spannend mitverfolgt, wie er diese grauenhafte Zeit wahrnimmt, hat man bei seiner Schwester anfangs das Gefühl, nichts Neues zu erfahren. Da hätten Bruder und Schwester sich eher zusammensetzen und klären sollen, wer welchen Part erzählt, da man so Wiederholungen hätte vermeiden können. So jedoch wirkt es einfach wie das Niederschreiben ihrer Sicht der Geschichte, die auch in zwei Einzelbänden hätten veröffentlicht werden können. Genauso trägt auch die Perspektive der Mutter gen Ende des Buches zu nichts bei; statt ihre Emotionen ausführlich zu beschreiben, zählt sie in aller Kürze die ganzen Geschehnisse nochmal auf und betont, wie sehr diese sie gequält haben. Trotzdem wirkt es viel zu nüchtern, vor allem im Vergleich zu den Dingen, die Michael und Dorothea erzählen. Man erfährt sogar aus der Sicht ihrer Kinder mehr über diese Frau als sie über sich selbst und ihren Umgang mit der Situation zu sagen bereit ist. Daher ist man versucht, einige Passagen einfach zu überspringen, da man das Gefühl bekommt, nichts Neues mehr zu erfahren.
Glücklicherweise tut man das aber in den Erzählanteilen der beiden Geschwister, die zwar über denselben Zeitraum erzählen, allerdings mit unterschiedlichen Gewichtungen im Inhalt und auch mit anderen Informationen. Natürlich weiß man Vieles über die DDR und die Stasi, doch die beiden schaffen es dennoch, einem privatere Einblicke zu gewähren. Vor allem die Stellung der beiden als musisch begabte Menschen zeigt deutlich, wie wenig Verwendung die Gesellschaft für sie hat und wie schwer es ihnen fällt, mit ihrer Leidenschaft in Zukunft Geld zu verdienen. Vor allem Dorothea beschreibt die Liebe zu ihrer Geige wirklich plastisch, sodass man umso mehr mit ihr leidet, wenn ihre Ausbildung in dem Bereich nur daraus besteht, die Stücke möglichst perfekt vorzuspielen und die Chancen für eine Solisten-Karriere mehr als gering sind. Auch auf die Art und Weise, wie der Staat die Indoktrination von Kindheit an in den Alltag integriert und wie militant die Jugendlichen behandelt werden, geht einem nahe, insbesondere da Michael das System recht schnell durchschaut.
Ebenso bekommt man ein recht gutes Gefühl für die beiden und kann sie sowohl vom Schreibstil als auch von ihrer Persönlichkeit gut unterscheiden. Während man zu Beginn von Dorotheas Teil noch denkt, dass man nochmals dasselbe durchkaut, entfernen sich die beiden allmählich voneinander und sind sich auch gar nicht mal so ähnlich. Michael ist ein geheimer Gegner des Systems und hat schon vorher unterschwellig versucht, seine wahren Gedanken zu äußern, seine Schwester hingegen hat sich von Anfang an so sehr in ihrer Musik verloren, dass sie die Augen recht lange vor dem wahren Gesicht der DDR verschließen konnte. Man gewinnt beide auch sehr lieb und liest gerne ihre zunächst eingeschüchterten, doch nach und nach immer mutigeren Gedanken, die sie zum Zeitpunkt ihrer Gefangennahme haben. Sie haben die nötige Stärke, die psychologischen Spielchen und menschenunwürdigen Zustände durchzustehen, und machen so Eindruck auf den Leser. Leider gehen sie auf ihre Entwicklung nach ihrer Haft kaum bis gar nicht ein und denken während ihrer Gefangenschaft auch nahezu gar nicht aneinander. Ob das so realistisch ist, wenn man zusammen aufwächst und zum ersten Mal wirklich voneinander getrennt ist unter so schrecklichen Umständen, ist eher zweifelhaft.
Genauso sollte man sich vom Titel nicht täuschen lassen, denn um die Flucht per se geht es nur ganz am Anfang. Daher ist es verständlich, wenn man sich spannungsreiche Situationen mit Grenzern, Stacheldrahtzäunen und Auf-sich-allein-gestellt-Sein erwartet und enttäuscht darüber ist, dass man größtenteils nur den Gefängnisalltag geschildert bekommt. Dieser ist allerdings sehr interessant und wohl das, worüber der Durchschnittsbürger am wenigsten Bescheid weiß. Die Überschneidungen aber auch Unterschiede können einen sehr in diese graue, triste Welt hineinziehen und formen ein schlichtweg plastisches Bild. Beispielsweise dient ein Klopfsystem in beiden Fällen zur Kommunikation, allerdings gibt es unter den Männern keine schwarzen Schafe, die jemanden zugunsten eigener Vorteile anschwärzen - im Gegensatz zu den Frauen, mit denen Dorothea ihre Zeit verbringen muss. Auch dass die Standards in den Gefängnissen nicht alle gleich sind, vor allem der Vergleich mit ausländischen Gefängnissen der damals sozialistischen Länder, sind ziemlich erschreckend und lassen einen kontinuierlich weiterlesen. Die Struktur mancher Themen erschließt sich einem ab und an nicht so ganz, allerdings ist der Inhalt immer noch bemerkenswert und wird wahrscheinlich so einigen verdeutlichen, dass zwischen NS-Staat und Stasi keine großartigen Unterschiede liegen.
Schöne kleine Nebeneffekte sind, dass sich das Geschwisterpaar große Mühe gegeben hat, Dokumente und Briefe in Ausschnitten in ihren Bericht zu integrieren. So kann der Leser nämlich zwischendurch nicht vergessen, dass es sich hier um eine wahre Geschichte handelt, auch wenn sie viele Jahre zurückliegt. Ebenso bekommt man die zahlreichen Fluchtversuche anderer ,,Straftäter'', die die Geschwister in den Gefängnissen kennenlernen, an die Hand gelegt, was einem nochmals vor Augen führt, wie viele Menschen aus der DDR fliehen wollten und vor allem wie verzweifelt kreativ manche geworden sind, um dies zu erreichen.



Letztlich erreichen die beiden Geschwister mit dem Buch genau das, was sie auch erreichen wollen: diesen Zeitabschnitt der deutschen Geschichte nicht in Vergessenheit geraten zu lassen und so den Menschen auch beizubringen, alarmierende Anzeichen wahrzunehmen und dagegen vorzugehen. Das tun sie vor allem durch die Schilderung des Prozesses, in dem sie erkennen, was hinter der Ideologie steckt und so beginnen Dinge zu hinterfragen. Diese Schilderungen lesen sich sehr flüssig, ebenso wie all das, was man über die Tricks der Stasi und das Leben im Gefängnis erfährt. So kann auch ein grauer Alltag sehr spannend sein, da es so weit entfernt von dem ist, was man heutzutage als Staat und Menschenwürde wahrnimmt. Trotz all der Erkenntnisse hätte man das Buch besser strukturieren können, da man so keine Wiederholungen gehabt hätte. Außerdem wären ein paar mehr Einblicke in ihr Leben nach dem Gefängnis wahnsinnig interessant gewesen. Trotzdem ein empfehlenswerter Erfahrungsbericht, wenn man sich für dieses Thema interessiert und mit stilistischen Schwächen kein Problem hat.




Ich gebe dem Buch:


♥♥.♥ Herzchen


Extra:



Wenn ihr einen Film sucht, der sich mit dem Leben von Künstlern in der DDR beschäftigt, allerdings aus der Sicht eines Stasi-Spitzels, dem kann ich Das Leben der anderen empfehlen :) Es geht darin um einen Spitzel, der einen Dichter und seine Frau rund um die Uhr bewachen muss und dabei merkt, wie unfrei er tatsächlich ist. Neugierig geworden?
 Hier der Trailer dazu :)


CU
Sana

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