Sonntag, 25. Juni 2017

,,Die tun mir so Leid'': Mein Freiwilliges Soziales Jahr mit Behinderten

Der 15. August 2016 war ein ganz besonderer Tag für mich.


Denn an diesem Tag habe ich nach den letzten Sommerferien meines Lebens angefangen zu arbeiten. Nicht auf 450-Euro-Niveau, nicht an der Kasse vom REWE die Straße runter, nicht mit um die Ohren gehauenen Nachtschichten. Im Gegenteil, pünktlich um 6. 40 Uhr hieß es, aus dem Bett aufzustehen und sich auf den Weg zu seiner FSJ-Stelle zu machen.
Das sogenannte Freiwillige Soziale Jahr wird immer beliebter bei Jugendlichen, die gerade mit der Schule fertig sind und nicht so recht wissen, wie es danach weitergehen soll. Das ist zumindest bei den meisten der Hauptgrund; andere sind, dass man die Bewerbungsfristen für Studium & Berufsausbildung verpasst hat, oder aber, dass man schauen wollte, ob der soziale Bereich was für einen ist.
Das zumindest war es, was mich dazu bewogen hat, meine Bewerbungsunterlagen loszuschicken. Ein paar Erfahrungen sammeln, schauen, ob man sich psychisch zur Genüge von seiner Arbeit distanzieren kann trotz so viel Kontakt zu Menschen, mal Geld verdienen statt sofort weiterzupauken. Es sollte eine Bewährungsprobe für mich sein - wenn ich es schaffen würde, mit Menschen zu arbeiten, ohne die Arbeit mit nach Hause zu nehmen, dann wird der soziale Bereich das Richtige für meine Zukunft sein.
Und dazu habe ich mir das ausgesucht, was sich nur wenige Menschen als Beruf vorstellen können: eine Einrichtung für Behinderte. Genauer gesagt, eine Schule für geistig und körperlich Behinderte.
Wie ist diese Herausforderung für mich geendet? Wo bin ich gelandet? Wie hat mich das Jahr beeinflusst? Kann ich ein FSJ in dem Bereich oder im Allgemeinen empfehlen?
Davon erzählt dieser Erfahrungsbericht.



[Quelle: pixabay.de]




Phase 1: Die Bewerbung & Organisation des FSJ

Ich persönlich habe mich nicht an vielen Stellen bewerben müssen, um ein FSJ zu ergattern. Zurecht, denn die meisten dieser Stellen werden in Einrichtungen vergeben, die händeringend Personal brauchen. Krankenhäuser, Kindergärten, Altenheime, Schulen, Behindertenwerkstätte - da ist ständig etwas los und es werden jede Augen, Ohren und Hände genommen, die man kriegen kann. Natürlich sollte man vielleicht keine fingerdicke Polizeiakte vorweisen, allerdings sind die Anforderungen zumindest meiner Meinung nach doch relativ gering. Meinen Erfahrungen zufolge wird man eher schief angesehen, wenn man trotz eines sehr guten Abiturs ein Freiwilliges Soziales Jahr absolviert statt sofort zur Uni zu gehen.
Diesen Punkt betreffend habe ich mir also gar keine Sorgen gemacht. Was mir hingegen etwas Bauchschmerzen bereitet hat, war der Arbeitsplatz an sich. Es sollte ein Test sein, ein Herantasten an die Welt der Sozialen Arbeit, die mir zeigen sollte, ob ich aus dem richtigen Holz geschnitzt war. Denn die Wege ,,normaler'' Menschen kreuzen sich recht selten mit denen von behinderten. Wie schnell würde ich also lernen, mit ihnen umzugehen? Würde ich überhaupt alle von ihnen verstehen können? Würde ich geduldig und verständnisvoll genug sein? Oder würde mich alleine der Anblick von einem sabbernden Kind im Rollstuhl fertigmachen? All das spukte mir im Kopf herum und ließ mich an meiner Entscheidung, für 12 Monate an dieser Schule zu sein, anzweifeln. Zwar liebe ich Kinder, aber würde mir genau diese Liebe nicht zum Verhängnis werden?
Solche Zweifel sind vollkommen normal, aber man sollte sich auf keinen Fall davon unterkriegen lassen - ebenso von der Organisation.
Denn ihr könnt euch darauf einstellen, dass man euch relativ schnell abarbeiten wird. Die meisten der Einrichtungen, die FSJler annehmen, sind darin routiniert, haben aber auch viel mehr und ,,Wichtigeres'' zu tun, als einem alles Mögliche an die Hand zu geben. Wundert euch daher nicht, wenn der Papierkram euch irgendwie überfordert, denn das hat er mich definitiv. Es gab viele Komplikationen; Dinge, die ich abgeschickt habe, kamen nicht an, betreffende Personen wurden nicht erreicht, und es gab eine Menge Broschüren an die Hand, damit man genauestens über seine Rechte aufgeklärt wird, die man aber letztlich sehr selten gebraucht hat.

Das Wichtigste im Allgemeinen war da allerdings:

1. man hat Anspruch auf 30 Tage Urlaub (es sei denn, man arbeitet an Schulen, da man dort ja die Ferien hat)
2. man muss den Arbeitsplatz anrufen, wenn man krank ist, und eine Bescheinigung vom Arzt mitbringen, wie bei jedem anderen Arbeitgeber auch
3. wenn man nicht auf die Anzahl an Stunden im Arbeitsvertrag kommt, wird man diese Stunden nacharbeiten müssen
4. man kann eine Vergütung von etwa 300 bis 400 Euro erwarten
5. von Zeit zu Zeit finden Bildungswochen statt, in denen man in einer Gruppe von anderen FSJlern desselben Trägers (nicht unbedingt jedoch der gleichen Einrichtung) für fünf Tage ein bestimmtes Thema bearbeitet; streng genommen ist das ein Seminar, fühlt sich aber häufig an wie Freizeit.

In meinem Fall ist es auch so, dass man sich verpflichten muss, übliche Hygiene- und Datenschutzregelungen zu unterschreiben, ebenso wie eine Selbstverpflichtungsregelung. Die ersten beiden erklären sich von selbst, die letzte Regelung hingegen bezieht sich darauf, dass man sich dazu verpflichtet, den Kindern keine seelische, physische oder sexuelle Gewalt anzutun. Einigen Lehrern genügt nicht mal das; ich habe Geschichten gehört, dass FSJlerinnen nicht mal mit einem kleinen Jungen auf Toilette gehen und/oder seine Windeln wechseln durften. Die Logik dahinter ist aber natürlich klar. Es gibt genug Menschen, die sich an hilfsbedürftigen Personen ergötzen oder mit denen mal das Temperament durchgeht, und vor so was muss jedes Kind geschützt werden, sei es erst 6 oder schon 17 Jahre alt.

Hat man das alles hinter sich gebracht, so startet man in den Arbeitsalltag.


Phase 2: Eingewöhnung

Jeder von uns hat mal eine Schule besucht, daher ist der allgemeine Verlauf einem schon von vornehrein klar. 

7.45 Uhr: Ankommen der ersten Kinder und Frühaufsicht auf dem Schulhof
8.15 Uhr: Unterrichtsbeginn
8.15-9.35 Uhr: 1. Block Unterricht (meistens bestehend aus Morgenkreis und Frühstück)
20 Minuten Pause
9.55-11.15 Uhr: 2. Block Unterricht (zweimal in der Woche bestehend aus Kursen, ansonsten aus klasseninternem Unterricht)
20 Minuten Pause
11.35-12.55 Uhr: 3. Block Unterricht (Mittagessen und AGs inbegriffen)
20 Minuten Pause
13.15-14.35 Uhr: 4. Block Unterricht, Heimfahrt der Kinder

Wenn die Kinder Pause haben, hat man meistens auch Pause. Es sei denn, man wird einem Teil des Schulhofes oder einem einzelnen Kind zugeteilt, um nach dem Rechten zu sehen oder im Falle der Einzelaufsicht das Kind zu bespaßen. Dabei handelt es sich meistens um Kinder, die motorisch eingeschränkter oder anfallsgefährdet sind. So hatte ich zum Beispiel regelmäßig Einzelaufsicht für ein Rollstuhlkind, das es liebte zu schaukeln oder rumzufahren, aber auch für ein Kind, das sich größtenteils nur mit sich selbst beschäftigt hat und man daher nie großartig etwas mit ihm machen konnte. 60 Minuten Pause im besten Fall, falls ein Kind krank ist, ist also schon recht ordentlich! ^.^ 

Wie auch in der eigenen Schulzeit gibt es natürlich sowohl starke als auch schwache Schüler, aber an einer Schule, an der alle Kinder für ihr Alter zurückliegen, gibt es da viel gravierendere Unterschiede. Aus diesem Grund fühlt es sich erstmal komisch an, selbst mit 15-Jährigen noch immer jeden Tag abzuklären, welches Datum oder welches Jahr man am heutigen Tag hat oder mit ihnen Bilder derjenigen an die Tafel zu kleben, die anwesend oder krank sind. Ich war größtenteils in Klassen mit 8-12-Jährigen, dementsprechend fiel es mir nicht ganz so schwer, mich daran zu gewöhnen, wie viel Geduld man teilweise dafür braucht. Denn es gibt natürlich die relativ fitten, die einem die Antwort schon geben, bevor man die Frage zuende gestellt hat, andere hingegen brauchen ein paar Minuten dazu, um sich zu orientieren. Und wiederum andere sind geistig nicht dazu fähig, dem zu folgen, und brauchen speziellere Unterstützung.
Dafür sind meistens dann FSJler da, die so auch Aufgaben von Integrationshelfern übernehmen. Egal ob Essen anreichen, am Tisch beim Ausschneiden helfen oder auf Toilette gehen - diese Kinder erfordern eine Menge Geduld und erscheinen einem am Anfang sehr anstrengend. Im Normalfall hat man zuvor ja nicht mit Behinderten zu tun gehabt und kann so ihr Verhalten oder ihre Art zu kommunizieren nicht innerhalb von ein paar Tagen verstehen oder einschätzen. Dementsprechend fühlt man sich auch hilflos und wie ein Versager, wenn man in einem Moment der Unachtsamkeit auf einmal einen Teller mit Essen auf dem Fußboden zerschellen hört. Es fühlt sich merkwürdig an, wenn man in einer der höheren Klassenstufen ist und auf einmal jemandem eine Windel anlegen muss, der vielleicht sogar älter ist als man selbst. Es zerrt an den Nerven, wenn man ein Kind nicht ruhighalten kann und es so den Unterricht aufhält oder stört.

Kriegt man da denn überhaupt Unterstützung seitens der Lehrer?
Das kommt ganz darauf an, wie die Klasse zusammengelegt ist. Denn wie ihr seht, sind die unterschiedlichen Stufen der Entwicklung recht gravierend und die Klassen häufig unterbesetzt. Alleine in einer meiner Klassen gab es vier schwerer behinderte Kinder neben einer Handvoll fitteren, obwohl nur zwei Lehrer, ein FSJler und eine Integrationskraft sich um ebendiese Kinder kümmern können. Von daher gehen - laut meinen Erfahrungen - die meisten Lehrer nur kurz auf einen ein und sind dann bereits damit beschäftigt, die Klasse irgendwie zusammenzuhalten. Es wird vielleicht die eine oder andere Pause geopfert, um einem den Schulalltag zu erklären oder wie ein bestimmtes Kind drauf ist, doch ansonsten sind die meisten Lehrer zu gestresst und durch den Wind, um ausreichend auf einen einzugehen. Daher muss man in der Zeit der Eingewöhnung vor allem zweierlei tun:
Bei Bedarf Fragen stellen - denn so viel die Lehrer auch um die Ohren haben, sie müssen einem antworten - und sein Umfeld sehr genau beobachten und verstehen lernen. Am besten bereits von Anfang an, und seien die Fragen noch so dämlich und die Beobachtungen noch so klein. Das verkürzt die Eingewöhnungsphase ungemein, weil man so die Kinder schneller kennenlernt, routinierter in den Aufgaben wird und auch die Kinder sich an einen gewöhnen.


Phase 3: Alltag - und doch wieder nicht

Den Tipp habe ich natürlich selbst versucht zu befolgen und bin so auch recht schnell in den Alltag eingestiegen. Doch obwohl man sich an die Abläufe gewöhnt, ist trotzdem kein Tag wie der vorherige.
Nicht nur ich, sondern auch andere FSJler/-innen haben gemerkt, dass man eine unglaublich dicke Haut entwickelt, wenn man mit diesen Kindern arbeitet. Es ist nicht unbedingt so, dass man die Behinderung nicht mehr wahrnimmt, aber man nimmt sie nicht mehr als komisch oder störend wahr. Tatsächlich gehört sie zu dem Menschen einfach irgendwann dazu, sei es nur eine Lernbehinderung oder eine optisch sichtbare Behinderung.  Wenn das Kind nicht sprechen kann, dann lernt man, seine Gesten, Blicke und Laute zu deuten. Wenn ein Kind ein wenig länger braucht, um eine Strecke zu laufen, dann wartet man auch bereitwillig darauf und hetzt es nicht. Wenn ein Kind stottert oder lispelt, dann lernt man irgendwann, was es eigentlich ausdrücken will, sofern man genug Zeit damit verbringt. Genauso wie es zu einem selbst gehört, dass man bei Nervosität Fingernägel kaut oder die eigene Mutter die Einkaufliste morgens beim Kaffeekochen herunterrasselt - es wird irgendwann alltäglich und normal, eine Eigenschaft wie jede andere. Von daher verfliegt der Mitleidsgedanke recht schnell. Diese Kinder sind nämlich einfach so, können nichts dafür, und sind in den meisten Fällen fast noch lebensfroher als diejenigen, die von der Gesellschaft als ,,normal'' abgestempelt werden. Ja, viele nehmen nicht einmal wahr, dass sie in irgendeiner Weise behindert sind.
Viele, aber nicht alle. Denn man würde sich wundern, wie clever manche Kinder ihre eigene Behinderung ausnutzen. Ja, großer Aufschrei, aber es ist so. Denn wie jeder andere auch tendiert man anfangs dazu, das Kind zu unterschätzen und ihm seinen Alltag möglichst erleichtern zu wollen. Egal ob es darum geht, ihm Schuhe anzuziehen, Fleisch kleinzuschneiden oder gravierendere Dinge, sie sind es gewohnt, dass man ihnen anfangs immerzu helfen möchte. Wenn man sich jedoch untereinander austauscht, lernt man, hinter die Fassade zu blicken - und so auch, professioneller damit umzugehen. Das Kind haut sich selbst, wenn es nicht bekommt, was es will? Dann wartet man geduldig ab, bis es aufhört, und so die längere Ausdauer im Streit hat. Das Kind fragt ständig danach, wo seine Jacke abgeblieben ist, weil es eine Sehschwäche hat und es doch viel einfacher wäre, wenn der Erwachsene seinen Besitz sucht? Dann weist man es darauf hin, dass es nochmal gucken soll, da man selbst nicht verantwortlich für das Eigentum des Kindes ist. Das Kind wiederholt ständig dieselben Phrasen, obwohl man merkt, dass es einem nichts damit sagen will? Dann geht man irgendwann nicht mehr darauf ein. Das stellt sich natürlich erst nach einer Weile ein. Anfangs würde man versuchen, das Kind von der Selbstverletzung abzuhalten, dem anderen die Jacke in die Hand zu drücken oder immer auf diese Phrasen eingehen, damit sich die Kinder nicht unverstanden fühlen und einen mögen. Schließlich sollen sie sich ja möglichst selbstständig fühlen
Irgendwann jedoch beginnt man sich die Frage zu stellen: Was würde dem Kind eher zur Selbstständigkeit verhelfen? Wenn man selbst etwas für das Kind erledigt oder wenn man es höchstens darin unterstützt, etwas selbst zu tun? Es erfordert Geduld und Einfühlungsvermögen, aber letztlich hilft langfristig nur Zweiteres. Selbstverständlich ginge es schneller, wenn man selbst statt dem Kind die Aufgabe erledigen würde, aber das ist nicht der Zweck so einer Schule. Zweck ist es nämlich, die Kinder vor allem wegen ihrer Behinderung möglichst selbstständig zu machen und sich immer wieder Konzepte zu überlegen, wie es sich positiv entwickeln könnte. Und dazu kann man selbst als FSJler ohne Ausbildung in dem Bereich etwas beitragen, wenn man nur feinfühlig genug ist und dem Kind nahesteht.
Nicht nur bei den schwerer behinderten Kindern gilt das, sondern auch für die anderen. Daher gehören Konfliktregelungen, Beantwortung von Fragen und Aufgabenstellungen zum Arbeitsalltag dazu. Vor allem wenn man in einer Altersklasse eingeteilt ist, die nicht allzu weit von der eigenen entfernt ist, ist das gewöhnungsbedürftig. Doch wenn man sich reinhängt und diese dickere Haut bekommt, dann genießt man nach einer Weile auch Autorität unter den Kindern. Wenn man von vorneherein mit liebevoller Strenge durchgreift, aber trotzdem zeigt, dass man auch zum Spielen und Spaßhaben gut ist, dann hat man eigentlich das richtige Mittelfeld gefunden. Es ist wohl jedem selbst überlassen, wie gut man da positioniert ist - ich selbst habe aber zunehmend gespürt, dass sich diese autoritäre Position festigt. Wo ich anfangs noch gekniffen oder angespuckt wurde, hat man später auf mich gehört und teilweise sogar um Hilfe gebeten. Da geht einem schon das Herz auf, vor allem wenn es um Kinder geht, die einen am Anfang überhaupt nicht leiden konnten.
Irgendwann wurde ich zu einem festen Bestandteil der Klasse, vor allem wenn ich Eigeninitiative gezeigt habe. In die Planung einzelner Förderungspläne direkt wurde ich nicht einbezogen, aber zumindest darüber informiert und gefragt, was ich davon halte. Über Fortschritte oder Rückschritte, merkwürdiges Verhalten etc. habe ich auch regelmäßig informiert und teilweise auch erfreuliche Entwicklungen beobachten können.
Daher sind die Tage vom Grundprinzip recht gleich, haben aber immer etwas Neues zu bieten. Deswegen ist es schon in gewisser Weise anspruchsvoll, wenn man sich aber darauf einlässt, dann kann man an jedem Tag irgendwas Tolles entdecken. Es ist in mancher Hinsicht anstrengend, auch vor allem am Anfang recht überfordernd, aber sobald man einmal den Dreh raushat, dann verlernt man das auch nicht mehr. Egal ob man mit den Kindern etwas spielt, sie zur Ergo-, Logo- oder Physiotherapie begleiten oder ob man einen Ausflug in die Stadt macht - es gibt immer etwas Neues, seien es positive oder negative Aspekte.
Doch was davon hat letztlich überwogen?


Phase 4: Was ich gelernt habe


Ich bin wirklich wahnsinnig froh, dieses FSJ gemacht zu haben. Meine Zeit dort hat mich sehr geprägt, mir viel über mich selbst und auch Behinderte innerhalb der Gesellschaft beigebracht und mir letztlich auch eine Zukunft gezeigt, zu der ich meinen Teil beitragen möchte.
Aber es gibt auch einige Sachen, die nicht nur am Umgang mit FSJlern selbst, sondern auch mit Schulen für Behinderte allgemein verbesserungswürdig sind. Selbstredend kann ich nur von meinen und auch den Erfahrungen der anderen FSJler in meinem Bekanntenkreis sprechen, aber es gab durchaus einige Aufreger, die nicht hätten sein müssen. Und so sehr ich dieses FSJ geliebt habe und Aussagen vieler zufolge immer total glücklich darüber erzähle, die Kritik muss sein. Nicht nur, damit man zu einem differenzierten Ergebnis kommt, sondern damit man einen Eindruck bekommt, was einen erwarten könnte, wenn sich bis dahin nicht etwas an den Bereichen ändert.

1. Die Organisation

Man müsste meinen, dass Schulen, in denen die geistige Gesundheit der Kinder teilweise davon abhängt, dass sie einen geregelten Alltag haben, besser organisiert sind als Schulen für Nichtbeeinträchtigte. Doch weit gefehlt.
Vor allem als FSJler selbst kann man sich glücklich schätzen, wenn man eine Information nicht erst in letzter Minute erhält. Natürlich sind wir diejenigen, die am meisten als Springer benutzt werden, immerhin sind FSJler quasi die Mädchen für alles. Wenn es ein oder zweimal vorkommt, dass man 5 Minuten vor Unterrichtsbeginn darüber informiert wird, dass man heute den ganzen Tag in einer anderen Klasse ist, obwohl man schon für den Ausflug seiner eigentlichen Klasse eingeplant ist - okay. Aber dass das mehrmals die Woche vorkommt, ist eigentlich nicht mehr verzeihlich. Ebenso ist es alles andere als gut, wenn man als FSJler mitten im Tag zufällig mitbekommt, dass man heute 2 Stunden länger bleiben muss, weil etwas aufgebaut wird oder generell beschlossen wurde, Stunden nachzuholen. Selbst mich, die nur eine Viertelstunde von dieser Schule entfernt wohnt, hat das aufgeregt, aber natürlich auch diejenigen, die vielleicht eineinhalb Stunden mit der Bahn fahren müssen, um zur Arbeit zu kommen. Es ist fast, als würde man überhaupt nicht damit rechnen, dass FSJler auch ein Leben außerhalb ihrer Arbeit und eigene Pläne haben.
Ich habe diese spontanen Umplanungen sogar nicht allzu häufig erleben müssen. Andere FSJler hingegen haben es viel schwerer gehabt, so einen wirklichen Alltag aufzubauen, vor allem wenn sie auf einmal Aufgaben übernehmen mussten, die sie an sich nicht haben, zum Beispiel tatsächlich mal den Unterricht zu führen statt nur als Unterstützung zu dienen.
Dabei haben wir unsere Telefon- und Handynummer und E-Mail-Adresse nicht umsonst angegeben. Ja, wir sind keine Lehrer, nein, wir müssen keinen Unterricht planen, aber trotzdem haben wir ein Anrecht darauf, zu wissen, was mit uns passiert, wenn wir bei der Arbeit erscheinen und das nicht zufällig mit halbem Ohr von jemand anderem mitzubekommen.
Etwas, was mich zwar nicht selbst betrifft, aber dafür die Kinder und Lehrerschaft, ist die Organisation der Klassen. Sie sind sehr gemischt und immer mit mehr als nur einem Lehrer versehen, und trotzdem sind die Verhältnisse dort sehr unausgeglichen. Dabei bleiben die Kinder dann auf der Strecke, weil sich nicht ausreichend um sie gekümmert werden kann. Daher wäre eine geeignetere Verteilung eher angemessen. Dass man Kinder derselben Entwicklungsstufen eher zusammentut statt sie mit vielen anderen verschiedener Stufen zu vermischen. Dann käme man auch viel eher mit dem Stoff voran und müsste nicht ständig darum bangen, dass ein Kind auf der Strecke bleibt.

2. Die Kompetenz

Selbst an gewöhnlichen Schulen werden die Lehrer häufig als unfähig bezeichnet. Auch ich selbst habe ein paar Lehrer besessen, wo ich mich fragte, wie sie jemals auf die Idee gekommen sind, diesen Beruf zu erlernen.
Eigentlich müsste man meinen, dass Förderschullehrer deswegen umso kompetenter sein müssten. Immerhin sollte man angesichts der vielen unterschiedlichen Einschränkungen und Entwicklungsstufen ein gutes Einfühlungsvermögen haben und sich durchsetzen können. Sich vor allem auch auf einzelne Schüler beziehen können, wenn die Klassen schon nur aus 7 bis 10 Schülern bestehen, und wirklich etwas für sie tun zu können.
Doch auch hier an dieser Schule habe ich mich bei einer Handvoll Lehrer gefragt, wie sie überhaupt auf die Idee kommen, dass sie diesen Job auch nur ansatzweise gut machen. Wie gesagt, viele von den Lehrern wiesen Kompetenzen auf, haben die Klasse auch diszipliniert und den Unterricht gut gestaltet. Aber bei ein paar Lehrkräften ist einem die Inkompetenz und auch Inkonsequenz fast täglich aufgefallen.
Fehlende Arbeitsblätter, falsche Arbeitsblätter, Arbeitsblätter, die man während der Stunde kopieren muss, weil man vor Beginn des ersten Blocks wegen des Kaffees mit dem Kollegen keine Zeit dafür hatte. Aufgaben, die man den Kindern gibt, nur um sie kurzerhand selbst zu erledigen, weil das Kind fünf Sekunden zu lange benötigt. Die Aufgabenzuteilung nicht auf die Reihe zu bekommen, obwohl man nur auf der Liste nachsehen müsste. Kindern direkt Strafen anzudrohen, nur weil sie sich mal eine Sekunde im Stuhlkreis unterhalten. Sich darüber zu beschweren, dass ein Kind Rückschritte macht, obwohl man sich selbst nie mit ihm hinsetzt und etwas mit ihm erarbeitet. Einen Raum für eine physiologische Untersuchung des Kindes zur Verfügung zu stellen, obwohl er für diese Zeit des Tages besetzt ist und man das auch wüsste, wenn man auf die Eintragungen an der Tür des Raumes achten würde. Das Kind hinter sich herzuziehen, sodass es fast hinfällt, obwohl es selbst laufen könnte.
Es gibt noch viel mehr Beispiele, die sich vielleicht für manch einen lustig oder nach nichts Großem anhören. Aber man müsste doch meinen, dass so etwas nicht alle zwei Tage müsste, wenn man schon ein paar Jahre berufstätig ist. Spätestens dann, wenn der FSJler sich Pläne besser merken kann oder ihm Fehler eher auffallen als dem Lehrer selbst, müsste man sich doch Gedanken darüber machen, was man da zu suchen hat. Vor allem an einer Schule, wo die Kinder noch mehr auf den Durchblick der Erwachsenen angewiesen sind, ist so etwas einfach nicht schön und sorgt auch dafür, dass man nicht ernst genommen wird. Zwar schön für einen selbst, wenn man als FSJ-Kraft die Kinder mehr unter Kontrolle hat als der Lehrer - aber eigentlich sollte es umgekehrt sein.

3. Hab ich was zu melden?

Wenn man Eigeninitiative ergreift, definitiv. Man kann ein wenig in das Planen eingreifen, mitbeschließen, was zum Besten des Kindes oder der Kinder wäre - aber selbst wenn man etwas anspricht oder anmerkt: wenn man an einen der Lehrer aus Punkt 2 gerät, dann wird das nicht immer berücksichtigt. In der Tat habe ich bei einer Lehrkraft mehrere Monate versucht ihr zu demonstrieren, dass ein Kind, das fast nichts selbstständig auf die Reihe kriegt, alleine Joghurt essen kann. Vor allem bei so einem Fall, wo nie Fortschritte festgestellt werden, wäre es doch umso besser, das auszuprägen und vielleicht auch im Zeugnis anzumerken. Aber nein, erst als ich zu einer anderen Lehrkraft ging und meine Beobachtungen teilte, wurde etwas damit angefangen. Warum macht man so was? Aus Bequemlichkeit? Weil man sich als dem FSJler übergeordnet sieht? Natürlich ist man das in gewisser Hinsicht, aber ist dieses übergeordnete Dasein wirklich so hoch, dass der FSJler einem Kind nicht erlauben darf, auf Toilette zu gehen? 
Da wird dann meiner Meinung nach der Nutzen eines FSJlers degradiert. Klar sind wir größtenteils dazu da, die ,,Drecksarbeit'' zu machen, aber man steht doch so vor allem den schwerer behinderten Kindern näher als der Lehrer es selbst tut. Dadurch bekommt man auch Entwicklungen mit, die jemand anderem entgehen könnten. Man könnte dabei helfen, das Kind selbstständiger werden zu lassen, ihm gewisse Alltagsdinge beibringen, ihm die Aufmerksamkeit schenken, die es benötigt, um sich positiv zu verändern. Man ist mehr als nur das Mädchen, mit dem das Kind seine Kurse besucht und mit dem es auf Toilette geht. Zumindest sollte man das sein. Vor allem wenn sich wirklich engagiert.

Nichtsdestotrotz hat mir das FSJ eine Menge gebracht.
Ich konnte mich an vielen Stellen selbst überwinden. Vor allem mit dem Anreichen von Essen habe ich anfangs meine Probleme gehabt, weil ich es wirklich eklig fand. Doch irgendwann gewöhnte man sich daran und konnte selbst ohne mit der Wimper zu zucken Erbrochenes wegwischen oder ein Kind umziehen, das sich gerade in die Hose gemacht hat. Genauso verhält es sich damit, auf andere Leute zuzugehen. Egal ob es sich um den Lehrer handelt, an den man eine Frage hat, oder um ein Kind, das gerade Mist gebaut hat - man bekommt mehr Selbstbewusstsein und lernt auch, sich bei Diskussionen durchzusetzen. Auch die eigene Geduld und Aufnahmefähigkeit steigert sich. Wenn man anfangs noch total überfordert mit einem Kind ist, weil es den ganzen Tag rumbrüllt, dann nimmt man das in den nächsten Monaten einfach hin und lernt, dass es nicht unbedingt etwas mit der eigenen Kompetenz zu tun hat, sondern schlichtweg mit der Laune des Kindes.
Außerdem hat es mich in meinem Wissen bezüglich Behinderung sehr bereichert. Nicht nur hatte ich die Möglichkeit, in den Akten der Kinder zu blättern und so etwas über ihre Krankheitsbilder zu erfahren, auch ist diese Parallelgesellschaft generell etwas vollkommen Neues. Ich habe gelernt, dass ,,normal'' etwas sehr Subjektives ist und es nicht von der Gesellschaft bestimmt werden sollte, wer dazugehört und wer nicht. Ich habe gesehen, dass eine Behinderung nicht heißt, dass das Leben weniger lebenswert ist, sondern dass es im Gegenteil dann einfacher ist, aus kleinen Dingen etwas Großes zu machen. Man freut sich darüber, dass ein Kind gelernt hat, bis 10 zu zählen, obwohl es dem Alter entsprechend schon bis 100 zählen sollte. Selbst so etwas wie ein Löffel, der selbst gehalten wird, oder ein Lächeln, das sich auf einem sonst versteiften Gesicht ausbreitet, kann einem den ganzen Tag versüßen. Diese Kleinigkeiten freuen einen irgendwann genauso wie sie die Kinder freuen, weswegen dieses FSJ auch meiner Sicht auf die Welt sehr gut getan hat. Genauso werde ich jetzt mit offeneren Augen durch die Welt gehen können, weil ich gemerkt habe, dass einige Orte noch viel zu behindertenuntauglich sind. Wer weiß, vielleicht findet sich sogar ein Projekt, an dem man sich engagieren kann, um in diesem Bereich aufzuklären. Vielleicht tue ich auch genau das mit diesem Blogpost.
Letztlich hat mir dieses FSJ in vielerlei Hinsicht die Augen geöffnet. Ich habe gelernt, dass ich eine leitende Position annehmen kann, wenn ich will. Ich habe gelernt, dass Alltag nicht gleich Alltag ist und man das insbesondere dann mitbekommt, wenn er aus so vielen kleinen Erfolgen und Misserfolgen besteht wie bei diesen Kindern. Ich habe gelernt, dass sich auch die gewöhnlichen Schulen mal ein Beispiel an diesen hier nehmen könnten, weil hier viel mehr auf die Kinder eingegangen wird und sie nicht so sehr unter diesem schrecklichen Leistungsdruck stehen. Das Individuum wird gefördert, nicht das Kollektiv, und das ist definitiv etwas, das man abkupfern sollte. Ich habe gelernt, Schule und auch Entwicklung differenzierter zu sehen und dass das Ganze in viel kleineren Stufen anfängt, als man annimmt. Ich habe gelernt, mich an kleinen Dingen zu erfreuen und eine Stütze zu sein, wenn man selbst sich nicht so sehr darüber freuen kann. Ich habe gelernt, Verantwortung zu übernehmen und dass das zwar anstrengend, aber auch wohltuend sein kann. Und ich habe gelernt, dass einem nichts an einer Behinderung Leid tun muss. Denn ja, es gibt diejenigen, die nie werden richtig selbstständig sein können. Es gibt diejenigen, bei denen man sich fragt, ob sie sich ihrer Existenz überhaupt bewusst sind. Es gibt diejenigen, die in einem frühen Alter sterben werden. Aber dafür gibt es eine Fülle mehr von ihnen , die jeden Tag fröhlich sein kann und sich überhaupt nicht an dem stört, was für so viele Menschen ein Verlegenheitsthema ist.
Mir tun diese Kinder auf jeden Fall nicht Leid, und genauso wenig tut es mir Leid, dieses FSJ gemacht zu haben. Denn es hat mich gestärkt, geprägt und mir den Weg gewiesen, den ich gerne einschlagen würde.

Ich hoffe, ich konnte euch einen kleinen Einblick geben, wie es in so einer Schule für Behinderte aussieht. Wäre das etwas für euch? Habt ihr sogar mal mit Behinderten gearbeitet? Sind eure Erfahrungen anders als meine?
Wenn ich irgendjemandem weiterhelfen konnte, freut mich das sehr :)

CU
Sana

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