Mittwoch, 6. April 2016

:)Rezension:): Aufschrei

Grundwissen:


Titel: Aufschrei - Ein Kind wird jahrelang missbraucht und seine Seele zerbricht. Das erschütternde Zeugnis einer Persönlichkeitsspaltung. (original: When Rabbit Howls)
Autor/-in: Truddi Chase
Erschienen: 1988 im Bastei-Lübbe-Verlag (Deutschland); original 1987
Seitenanzahl: 558 Seiten ohne Liste
Preis: unterschiedliche Angebote [Quelle: amazon.de]
Genre: Biografie; Psychologie; Dokumentation; Non-Fiction





Inhalt:


Brachten alle toten Seelen, vor allem die, denen Unrecht geschehen war, es doch irgendwie fertig, mit Stimmen, die lange nach ihrem Hinscheiden zu hören waren, ihre Botschaften mitzuteilen? - S. 319f


Psychotherapeut Robert A. Phillips sieht sich mit einer echten Herausforderung konfrontiert: Diese Herausforderung heißt Truddi Chase, doch handelt es sich dabei nicht um eine einzelne Frau, sondern knapp 92 Persönlichkeiten, die sich nun nach all den Jahren Hilfe holen. Denn schon seit ihrer frühesten Kindheit wurde Truddi sexuell und psychisch von ihrem Stiefvater missbraucht, während ihre Mutter wegschaute. So zersplitterte Truddi also, denn wie sonst hätte sie sich schützen können? Langsam, aber bestimmt erlangt ,,die Frau'', die Hülle aller Persönlichkeiten, Stück für Stück, wer in ihr steckt und welche Erinnerungen die jeweilige Person für sich beansprucht hat, damit Truddis inneres Kind geschützt bleibt. Ein schweres, anstrengendes und in diesem Buch dokumentiertes Unterfangen, das ihr Heilung und ein sicheres, normaleres Leben bringen soll.






Meine Meinung ...




zum Cover:




Deutsches Cover: ♥♥♥
Amerikanisches Cover Nr.1: ♥♥♥
Amerikanisches Cover Nr.2: ♥♥♥


Insgesamt finde ich die Cover für diese Biografie einigermaßen gelungen, finde das deutsche allerdings am besten, da es ein Kind in ebendieser misslichen Lage zeigt und so zu dem Grundton des Buches passt. Natürlich ist Mulitplizität ein Thema, das ebenfalls ganz groß geschrieben wird, allerdings ist doch der Missbrauch und die Inzest das gewesen, was all die anderen Probleme danach ausgelöst hat. Daher eignen sich diese für das Thema Multiple-Persönlichkeit-typische Aufmachungen zwar auch, jedoch hat die deutsche Aufmachung da einfach den tieferen Sinn hinter dieser Biografie verstanden. Wobei natürlich die anderen Cover auch ganz gut anzusehen sind, wobei vor allem das zweite amerikanische ein wenig gruselig aussieht und an Paranormales erinnert.
Den Titel hingegen finde ich im Original um Längen besser, da es sogar eine kleine Persönlichkeit namens Rabbit gibt, die im Laufe der Zeit den meisten Missbrauch mitbekommen hat und daher ein Geräusch wie ein sterbendes Kaninchen ausstößt (so wird es zumindest beschrieben). Der deutsche Titel hingegen ist austauschbar.




zum Buch:




Dies wird wohl das erste Buch sein, das ich zwar rezensiere, jedoch ohne irgendein System dahinter bewerte, sodass dies eher eine intuitive Wertung wird.
Zunächst kann man sagen, dass Truddis Geschichte sich von anderen Autobiografien erheblich abhebt. Nicht nur, weil es aus der dritten Person geschrieben und in unchronologischer Reihenfolge erzählt wird, sondern auch, weil eben nicht nur eine Person am Werk ist, sondern mehrere. Dabei stellen sie sich sogar niemals vor, sondern sagen in einem kurzen Vorwort, wer sie als Truddis ,,Truppe'' sind und warum sie sich für die jeweilige Erzählweise etc. entschieden haben. Faszinierend daran ist, dass man als Leser, der Mulitplizität definieren kann, davon ausgeht, dass der Schreibstil sich ständig ändert und dass man überhaupt keine Ordnung im Buch vorfindet, aber man tut es. Truddis Lebensgeschichte ist somit so literarisch verarbeitet worden, dass man an einigen Stellen sogar vergisst, dass dies eine Geschichte und das Zeugnis einer Therapie sind, die tatsächlich so vonstatten gegangen sind. Daher ist Aufschrei ziemlich gut geschrieben, was angesichts dessen, dass eine der Persönlichkeiten sogar zumindest teilweise als Geschichtenerzähler agiert, nicht ungewöhnlich ist. Dieser Mischmasch jedoch aus dem Original-Manuskript, den Sitzungen bei Psychotherapeut Robert A. Phillips, den Traumsequenzen, in denen der Mechanismus der Persönlichkeiten verbildlicht wird, und Truddis normalen und doch unnormalen Alltag macht das Buch sehr spannend, sodass man zügig durchkommt, wenn man sich für diese psychische Krankheit und auch die Folgen von Kindesmissbrauch interessiert. Insbesondere all die Kreativität, die man reingelegt hat, um das System der Truppe zu erklären und jede Persönlichkeit wirklich authentisch darzustellen, ist wirklich bewundernswert, weil es so erklärt wurde, dass auch Menschen, die sich weniger mit dem Thema auseinandersetzen und eine nicht ganz so große Fantasie haben, sich in etwa vorstellen können, wie dieser Wechsel der Übernahme ,,der Frau'' funktioniert und wie auch die Interaktion zwischen den verschiedenen Egos klappt. Daher wird die gesamte Thematik weniger abstrakt und man lernt zugleich mit Truddi und Robert A. Phillips, welche Mechanismen in ihr in Gang gesetzt werden und welche Person gerade die Oberhand hat. Dass man das so plausibel gestalten kann, ist wirklich bewundernswert und verleitet einen dazu, trotz all dem Schrecken und der Grausamkeit, die diese traumatisierte Frau erleben musste, sie doch eher faszinierend als erschreckend zu finden.
Womit man jedoch auch rechnen sollte, sind die sehr hart zu verdauenden Erinnerungen der 92 Persönlichkeiten. Denn nahezu alle von ihnen zeigen Szenen des alltäglichen Missbrauchs seitens des Stiefvaters, Schimpftiraden der Mutter, wie beide ihr das Mantra eingeflößt haben, dass sie böse und zu nichts zu gebrauchen sei, wie sie widerwillig Erregung empfindet, wie sie stundenlang als Strafe auf dem Boden knien muss oder ihr heißer Tee in Litern über den Arm gekippt wird. In einigen Kapiteln häufen sich diese Erinnerungsfetzen geradezu und kommen nicht mal in Abständen auf Truddi zugeschwommen, sodass man ihr gesamtes Entsetzen und die unterschiedlichen Reaktionen der Truppe darauf miterlebt und auch in einem selbst die Galle hochsteigt, wenn man darüber liest, wie eine Zweijährige dazu gezwungen wird, ihren Stiefvater oral zu befriedigen. Dahingehend ist das Buch nichts für Zartbesaitete, da es die hässlichsten Seiten der Menschheit offen und in allen Details preisgibt und man die Folgen dieses Missbrauchs wirklich hautnah miterlebt. Man versteht immer mehr, warum die Truppe für Truddi die einzige Möglichkeit gewesen ist, irgendwie zu überleben, da es sowohl Mitglieder gibt, die sich um nichts einen Kopf machen und die Probleme im Takt der Musik wegschnippen, die an dem Missbrauch zerbrochen und zerschunden und daher noch unterentwickelt sind, die gleichgültig auf jedes Gefühl reagieren und nur an sich selbst denken, die Sex exzessiv genießen und Sex als Teufelszeug verbannen. Diese Dynamik in ihrem Inneren in Kombination mit der Dynamik innerhalb der Handlung, da man in jedem Kapitel ständig etwas Neues in Erfahrung bringt, sorgt schließlich auch dafür, dass die Geschichte einen vollkommen einnimmt und wie gesagt ab und an vergessen lässt, dass sie wahr ist.
Es ist sehr gut erzählt, wie die passenden Puzzleteile sich langsam finden und man als Hobbyanalytiker und aufmerksamer Leser seine Vermutungen bestätigt sieht. Irgendwann erscheint einem Truddis Truppe ebenso real und gewöhnlich wie ,,der Frau'' selbst, man gewinnt sogar einige Mitglieder wirklich lieb und stimmt ihnen sogar teilweise darin zu, dass Integration gleichbedeutend wäre mit einer Ermordung der vielen Personen, die sich innerhalb von dreißig bis vierzig Jahren entwickelt haben. Dadurch, dass so viele von ihnen sich zu sich bekennen und ihre Stellung innerhalb des Systems langsam zeigen, kriegt man auch das Gefühl vermittelt, als würde Truddi Fortschritte machen, vor allem da ihre Egos immer eher verletzende Erinnerungen an sie lassen und so zeigen, dass sie immer mehr dazu heranwächst, diese auch zu sehen. Sie werden alle langsam zu einer großen Familie, die sich umeinander kümmert, und erschreckenderweise einen Plan fasst, von dem sowohl ,,die Frau'' als auch Phillips hoffen, dass er nicht umgesetzt wird. So gibt es unerwarteterweise eine Spannungsaufbau inmitten der Geschichte, obwohl dies bei einer Biografie nicht unbedingt zu erwarten wäre.
Sehr schön ist außerdem, dass dieses Buch eben nicht zu dem Zweck geschrieben wurde, einfach eine Biografie zu schreiben, sondern dass sowohl der Therapeut als auch die Patientin selbst die Folgen von Inzest und Missbrauch aufzeigen wollte, insbesondere da dies zum damaligen Zeitpunkt noch mehr Tabuthema gewesen ist als es noch heute ist. Dahingehend werden auch zwei andere Beispiele von Mulitplizität kurz eingeführt, die alle ihre Ursprünge in Formen von häuslicher Gewalt haben. Daher dient das Buch als Schocker, Aufwecker für die Menschen, die die Augen davor verschließen, wie schlimm dies werden kann, weswegen Truddi sogar hat ihre Therapiesitzungen filmen und an einer Universität und Polizeiwache zeigt und sich in eine Sitzung von Tätern begibt, um ihnen zu zeigen, was ihr Vergreifen an ihren Töchtern oder Söhnen mit einem Menschen machen kann. Daher ist der Wille der Aufklärung in den Bereichen Multipel-Sein und Kindesmissbrauch definitiv vorhanden und hinterlässt definitiv Spuren bei dem Leser.
Das Einzige, was negativ bei dem Buch aufstößt, sind die paranormalen Elemente dieses Buches. Zwar sind das alles wahre Begebenheiten, die auch durchaus seriös sind, allerdings kauft man es doch bei allem Glauben an die Geheimnisse der menschlichen Psyche nicht ab, dass Truddi durch die Energie von über neunzig Personen, die sie verströmt, Glühbirnen platzen lässt und ein Medium ist. Das grenzt doch eher an Wunschdenken bzw. heller Übertreibung, die dem Leser bestenfalls ein Schmunzeln entlockt, schlimmstenfalls ein ungläubiges Schnauben.




Insgesamt eine sehr interessante und lehrreiche Autobiografie der besonderen Art über die menschliche Psyche und den Umgang mit Traumata. Es ist so gut geschrieben, dass man manchmal vergisst, dass man die reale Geschichte einer Person liest, die schwere Schäden über einen Zeitraum von über zehn Jahren ertragen musste, und bewundert sie dafür, dass sie es trotzdem geschafft hat zu überleben, auch wenn es eine sehr außergewöhnliche Form davon ist und sie nur langsam, aber stetig wächst. Für Psychologie-Interessierte und Menschen, die sich nicht vor hartem Tobak fürchten, sondern die Augen gegenüber all dem Grauen trotz seiner Schrecklichkeit geöffnet lassen wollen. Ein Highlight der etwas anderen, manchmal übertriebenen, aber immer noch authentischen und seriösen Art!





Ich gebe dem Buch:


♥♥♥Herzchen 



Extra:


Von Truddi Chase persönlich mitbegleitet, gibt es auch eine Verfilmung ihrer Geschichte, wie sie vor der Therapie ausgesehen hat. Hier könnt ihr euch Voices Within - The Lives of Truddi Chase ansehen :3

CU
Sana

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