Sonntag, 17. April 2016

♥Es ist das Schwerste überhaupt zu gehen - bis man geht.♥

So sehr ich Margos Spuren als durchschnittlich empfunden habe, so sehr ist mir doch obiger Satz in Erinnerung geblieben.


Momentan ist alles ein wenig schwierig und zugleich so einfach, dass man es nicht darauf beruhen lassen kann. Alles im Leben kommt und geht, das ist ein Wissen, das man nicht nur durch das Sprichwort vermittelt bekommt, sondern selbst mit der Zeit lernt. Die wenigsten Beziehungen und Freundschaften halten ein Leben lang, die wenigsten Menschen bleiben in dem Dorf oder der Stadt stecken, in der sie geboren wurden, die wenigsten fahren nur an einen einzigen Ort in den Urlaub. Das alles weiß man. Oder glaubt es zumindest.
Aber vielleicht kam bisher nie so eine große, endgültige Veränderung, dass man infrage stellen musste, ob man dieses Wissen tatsächlich besitzt, oder ob man nur damit spielt, einen gefälschten Ausweis für den Umgang mit Umbrüchen, Aufbrüchen und Enden parat hat, wenn man sich bewähren muss. Ich habe doch selbst eine Formel dazu geschrieben, wie man dies regelt.
Und trotzdem fühle ich mich gerade verängstigt.
Nur noch 27 Tage, dann werde ich bis auf die mündlichen Prüfungen im Juni das letzte Mal einen Fuß in meine Schule gesetzt haben. Nur noch 20 Mal Unterricht werde ich haben, bis ich den nächsten in einem Seminar der Ausbildung oder des FSJs oder in einer Vorlesung beim Studium habe. Bis dahin können Monate oder Jahre vergehen. 12 Jahre voller Unterricht, und das wird in weniger als einem Monat einfach so enden? Was soll man dann anfangen mit all der Freizeit, den fehlenden Hausaufgaben, der fehlenden Möglichkeit, Small Talk im Klassenraum zu machen, über den Cafeteriafraß zu lästern, zu spät zu kommen oder sich mit Lehrern und Mitschülern anzulegen oder zu unterhalten?
Es ist befremdlich. Ich mag meine Schule nicht. Sie ist spießig, hält eine Fassade aufrecht, die nicht mal die Lehrer selbst bereit sind zu halten, ist seit der neuen Direktorin eine regelrechte Diktatur - laut meinem Geschichtslehrer sogar wie die Stasi -, und voller Rekruten aus der obersten Mittelschicht, die die gepuderten Nasen hochhalten und stetig nachfragen müssen, warum eine Wahrscheinlichkeit nicht größer als 1 sein kann. Ich dachte, die Wahrscheinlichkeit, meine Schule alles andere als zu vermissen, betrüge 1. Und doch sitze ich hier und ertappe mich dabei, wie ich an das Schrottwichteln im Englisch-LK denke, an die Schlagabtausche zwischen Booktalkgirl und meinem Lieblingslehrer, an das ständige ,,Ich habe dazu aber eine andere Meinung'' von KleinundHipster, an die wöchentlichen Berichte, wie scheiße AskShe im Englisch-Grundkurs ist, wie meine erste Klassenlehrerin vor meiner ersten Abiturprüfung zu mir kam und mir einen Glücksbringer geschenkt hat, obwohl ich annahm, sie hätte nicht gewusst, dass das stille, verängstigte Mädchen im hintersten Winkel des Klassenraums überhaupt auf der Liste der Anwesenden in der Aula stand. Zugegeben, die meisten dieser Erinnerungen häuften sich erst in den letzten Jahren an, denn Unter- und Mittelstufe waren gelinde gesagt schrecklich schrecklich oder schrecklich nichtssagend.
Und trotzdem werde ich es wohl vermissen, auch wenn es sich so, so gut anfühlt, aus der Schule zu gehen, einen Blick auf sie zu werfen und zu wissen: Ich werde da in soundsovielen Tagen nicht wieder reingehen. Was für eine euphorische Erleichterung meinen Körper durchströmte, als ich bei der ersten Abiturprüfung den Stift beiseitelegte und Revue passieren ließ, wie glatt es gelaufen ist, wie freundlich die Lehrer waren, und wie entspannt es war, in Jogginghose und Pulli an einem Tisch voller Proviant zu sitzen nebst anderen, die genauso aussahen und ebenso viel Essen und Trinken mitgebracht hatten wie für eine Wanderung. Den ganzen Tag über hatte ich gute Laune gehabt, und das auch bei der letzten Prüfung, die nicht sonderlich gut lief. Es war alleine ein Erfolg, dort gesessen zu haben und nun zu wissen, dass es nicht so schlimm ist, wie man es sich zuvor ausmalt. Immer muss man lächeln, wenn die Lehrer in einem Nebensatz erwähnen, dass man bald nicht mehr hier sein wird, dass man die letzten Stunden in Schulfächern absitzt, dass nun alles so entspannt und unproduktiv ist; Aufgaben sind ein Fremdwort, Autonomie Wirklichkeit. Man sieht auf das zurück, was man zustande gebracht hat, sieht, wie Mühe sich in Lohn verwandelt, wie Autoritätspersonen zu Kollegen werden und Cliquen zu einer Einheit von Schülern. Ein irgendwo friedlicher Abschluss einer Zeit voller Aufs und Abs.
Aber welche Zeit folgt jetzt? Auch Aufs und Abs? Nur Aufs? Nur Abs? In welchem Abstand folgen sie aufeinander? Wie intensiv sind sie? Wie viel können sie mich lehren?
Man verlässt nun einen Ort, um an einen nächsten zu gehen. Man darf nicht lange zögern oder suchen, man muss flexibel und akkurat sein. Lücken im Lebenslauf sind unerwünscht, obwohl man vielleicht genau das mal braucht. Nach einer solch langen Zeit der Arbeit verdient man es doch, nicht wieder eine neue anzufangen, eine, die von der Gesellschaft auch als solche akzeptiert wird. Was ist mit der Arbeit an sich selbst? Was ist mit der Arbeit an seiner Selbstzufriedenheit? Was ist mit der Arbeit am Aufbau der Geschichten, die man später seinen Kindern, seinen Enkeln, sich selbst erzählen will?
Geschichten wie ein Spontantrip nach Berlin, alles innerhalb einer halben Stunde gepackt, stundenlange Zugfahrt, Fetzen von Bahnhöfen, Schnipsel von Passagieren, die Klänge von Final Masquerade in den Ohren, während die Natur an einem vorbeirauscht und der Körper voller Adrenalin merkt, wie richtig das alles ist. Geschichten wie um 4 Uhr morgens Pizza essen gehen, nachdem man am Tag zuvor ein Kuscheltier für ein kleines Mädchen auf dem Oktoberfest gewonnen und danach seine Lieblingsserie die ganze Nacht gerewatcht hat. Geschichten wie im Regen zu tanzen und auf Feldern zu lieben, einen Kaffee in Köln zu trinken, um anschließend nach Nizza zu fliegen. Geschichten wie spätabends durch die Unterführung zu schlittern und dabei die Hände hochzureißen wie ein Rockstar. Geschichten wie noch nach Mitternacht auf einem Konzert am Strand zu sein und grölend mitzusingen, auch wenn man sich dabei anhört wie ein sterbendes Frettchen. Geschichten wie sich auf der Gondelbahn über einem Weinbergfeld zu küssen, während einem die Sonne ins Gesicht scheint. Geschichten wie sich an eine besondere Person zu kuscheln, die Augen zu schließen und die warme Atmosphäre in einer Garage zu genießen, während jemand Gitarre spielt und etwas über einen Weg nach Hause singt und man sich selbst so zuhause fühlt. Geschichten wie von einem unbekannten Busfahrer am Ostermontag gratis und alleine nach Hause gefahren zu werden, nachdem man ab 4 Uhr morgens unterwegs war. Geschichten wie mitten in der Nacht in einem schnurrenden Wagen aufzuwachen, um festzustellen, dass der Roadtrip durch Europa noch nicht vorbei ist und man an einer Tankstelle ist, um frischen Nachschub für den Tag zu holen. Geschichten, die hinter Running Gags stecken. Geschichten, die das Leben von Menschen wenn auch nur für einen Moment zusammenbringen und diesen unvergesslich machen. Geschichten, die sich beim Erzählen noch genauso gut anfühlen wie während ihres Erlebens. Geschichten zum Weinen. Geschichten zum Lachen. Geschichten, die einen mehr ausmachen als alles, was man in einem Lebenslauf zusammenfassen kann.
Ich weiß, ich weiß. Bloß weil ich die Schule verlasse und gesetzlich erwachsen bin, heißt das noch lange nicht, dass ich nicht mehr dazu imstande sein werde, noch mehr Geschichten zu sammeln und immer mehr zu der Person zu werden, die ich bin.
Aber was ist mit den Vorschriften? Die Schule bereitet vor auf ein Studium, auf ein Gespräch mit Menschen, die sich für Gesellschaft, Wissenschaft oder Literatur interessieren, darauf, als intelligent anerkannt zu werden. Aber sie bereitet nicht darauf vor, dass man eine Miete zu zahlen hat, sie bereitet nicht darauf vor, welches Amt sich wessen annimmt, sie bereitet nicht vor auf Schulden, Steuern, Intransparenz im Rechtssystem, nicht mal darauf, welche Möglichkeiten wir haben, um Jahre zum Studium zu überbrücken oder generell etwas Anderes in Erwägung zu ziehen als Studieren. Manchmal nicht einmal - und das kann ich jeden Tag in der Schule sehen -, wie man eigenständig denkt und Artikel 5 GG wahrnimmt. So viele Vorschriften und Institutionen, über die man nur vage Ahnungen hat, die im Gegenzug aber alles über einen wissen und einem das Leben zur Hölle machen können. Was, wenn sie mich nicht leben lassen? Was, wenn sie eine ebenso schlimme, vielleicht schlimmere Instanz sind als zwei Elternteile, die jemanden noch weniger gehen lassen können als man selbst loslassen kann.
Bewerbungen werden geschrieben. An rund 80 Orten muss sich ein Schulabgänger bewerben, um etwas zu ergattern. An 20 Universitäten schreiben, um eine Schule mit keinen mündlichen Noten und Hausaufgaben zu besuchen. Seit wann kann es sich unsere Gesellschaft leisten, so wählerisch zu sein? Will man es uns nicht einfach machen, der Zukunft, die junge potentielle Arbeitskräfte, Anführer und Helfer darstellen? Es verursacht in einem regelrecht Komplexe, wenn es wieder und wieder und wieder nicht funktioniert. Jeder scheint Connections zu haben, eine Möglichkeit, eine geplante Zukunft außer einem selbst. Im schlimmsten Fall möchte man einfach nur genommen werden, damit Arbeitsagentur und AOK und Eltern einen endlich in Frieden lassen. Dabei ist man doch 18. Ich dachte, dies sei der Zeitpunkt, an dem alle Fäden abgeschnitten werden und man nun als freier Mensch durch die Welt gehen kann, ohne Vormundschaft. Cogito ergo sum. Sapere ande. Warum scheint das in den dunklen Momenten des Pessimismus nicht mehr zu gelten? Warum leben wir dann alle wie Pinocchio? Im Bewusstsein eines Menschen, die Fäden an einem ignorierend? Wir sind keine maschinellen Missgeburten. Warum also so schnell der Verlust oder das zeitweilige Abgeben unserer Autonomie, bloß weil der zukünftige Chef nicht ein einziges Jahr im Lebenslauf undokumentiert sehen will?
Man kann es einfach kaum einschätzen, was auf einen zukommt. Und man kann nicht einschätzen, wer dabei bei einem bleibt. Mir ist bewusst, dass man hauptsächlich mit sich selbst leben und lieben muss, und daraufhin wird man sich nicht mehr alleine fühlen. Aber doch flammt eine leichte Angst auf, dass man diese Pinocchio-Momente auf sich gestellt durchleben muss. Dass es niemanden gibt, der mit einem seine Geschichte teilen möchte. Dass es Personen nicht schwer fällt, zu gehen, bevor sie es tun, sondern dass es ihnen bereits so geht, als hätten sie dich verlassen, und dann alles einfacher ist. Geht dann nicht ein Stück von einem selbst verloren, wenn man das zulässt? Wird sich dann nicht ein bitterer Nachgeschmack über diese köstlichen, lebhaften und liebevollen Erinnerungen legen, der es einem erschwert, daraufzuschauen?
Normalerweise denke ich nicht so. Wirklich. Ich bin normalerweise so optimistisch und so lebensfroh und meiner Selbst sicher. Aber schon seit ein paar Jahren geht schleichend eine Veränderung vor, ein Leben gewendet um 270 Grad, und unterm Strich gibt es wirklich wesentlich mehr Vor- als Nachteile. Und ich liebe diese Vorteile und versuche, die Nachteile zu akzeptieren, aber mich nicht an ihnen aufzuhängen; die Zeiten der Suizidversuche sind vorbei. Aber was wäre der Mensch, wenn er nicht ab und an seine Unsicherheiten hätte, sich verlassen und hilflos fühlen würde, wie jemand, der gerade von allem verlassen wird, was er kennt, obwohl es an ihm selbst ist, zu gehen, und er selbst auch diese Schritte ausführt?
Aber es ist der Prozess. Es ist das Schwerste, zu gehen - bis man es tut. Und noch habe ich vielleicht mental, aber nicht physisch, und vice versa, das verlassen, was ich verlassen möchte. Vom Sprungbrett mitten ins Wasser zu rennen ist nie mein Ding gewesen. Ich bin besser darin geworden, muss weniger Schritte Anlauf nehmen, kann eher geradeaus statt in die Tiefe zu sehen, mein Körper spannt sich nicht mehr so sehr vor der erwarteten Kälte an - aber vollständig dem gewachsen bin ich dann doch nicht, sei es durch innere oder äußere Umstände.
Aber das ist okay, nicht? So lange der Umbruch ist, so lange kann ich meine Geschichte schreiben. So lange ich nicht im Stillstand bin und mich der Situation ergebe, so lange kann ich Kapitel hinzufügen, Worte in mein Gedächtnis einbrennen, lächeln über Dinge, über die niemand sonst lächelt, Ketten brechen und wie Prometheus alles nach meinem Bilde schaffen, Menschen lieben und mich lieben lassen, die Welt einsaugen und in meine innere integrieren. Mich sicher fühlen in all dem, obwohl es nichts ist, was mir zusätzliche Qualifikationen einbringt - außer Erfahrung, Selbstsicherheit und ein Rückgrat, das sich weder Arbeitgeber noch Prof noch Betrügern beugen wird.
Genau das möchte ich. Vielleicht ... nein, sonst werde ich pessimistisch. Definitiv werde ich es schaffen, den Alltag zum Nebensächlichen, zu einer neutralen oder guten Verpflichtung zu machen, während all das Freie und Wilde und Kostbare meine alltägliche Außergewöhnlichkeit werden wird.
Danke.


CU
Sana

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